Vertreibung: 80 Jahre Kriegsende – Hessen hatte damals mehr Flüchtlinge

Wohl bis zu einer Million Heimatvertriebene sind nach dem Zweiten Weltkrieg nach Hessen gelangt – und hier integriert worden. Was bedeutet diese gewaltige Zahl in der heutigen Migrationsdebatte?

Nach dem verlorenen Zweiten Weltkrieg sind in Hessen weitaus mehr Vertriebene aufgenommen worden, als dies heute in einem ähnlichen Zeitraum mit Asylbewerbern der Fall ist. „Das Kriegsende vor 80 Jahren am 8. Mai 1945 kann wieder Anlass sein, über diese Leistung damals nachzudenken“, sagte Markus Krzoska, Koordinator eines Projekts zu Vertriebenen am Herder-Institut für historische Ostmitteleuropaforschung in Marburg.

Hessen war nach Kriegsende US-Besatzungszone. Bis 1950 gelangten laut Krzoska etliche hunderttausende Heimatvertriebene aus dem Osten und Südosten in das im September 1945 gegründete Bundesland, womöglich bis zu rund einer Million, auf der Suche nach einer neuen Heimat außerhalb des sowjetischen Einflusses. 

Die meisten waren Sudetendeutsche, Schlesier und Ostpreußen. Viele kamen mit Zugtransporten. Lutz Vogel vom Hessischen Institut für Landesgeschichte in Marburg erklärt, dass somit „binnen eines Jahres nach Kriegsende die Bevölkerung mancher hessischen Landkreise plötzlich zu einem knappen Viertel aus Vertriebenen bestand“. 

Und die Flüchtlingszahlen heute? 2024 zum Beispiel stellten in Hessen rund 18.000 Flüchtlinge einen Erstantrag auf Asyl. Die meisten von ihnen kamen laut dem Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) aus Syrien, Afghanistan und der Türkei. 

Historiker: Integration der Vertriebenen war insgesamt erfolgreich

„Nach dem Zweiten Weltkrieg gab es große Herausforderungen und nicht jeder einzelne Vertriebene hatte Glück, aber insgesamt war ihre Integration eine Erfolgsgeschichte“, sagt Krzoska. Diese könne nicht als Blaupause für heutige Migranten in Hessen genommen werden. „Doch sich die damals häufige Solidarität zu vergegenwärtigen, könnte hilfreich sein“, ergänzt der Historiker.

2023 hat Ministerpräsident Boris Rhein (CDU) einmal bilanziert: „Knapp ein Drittel aller in Hessen lebenden Menschen hat Flucht oder Vertreibung am eigenen Leib erlebt, ist durch das Schicksal der nächsten Angehörigen betroffen oder lebt als Spätaussiedler hier.“ Vor diesem Hintergrund hat der Landesvater die Bedeutung von Freiheit, Frieden und Heimat hervorgehoben.

Zerbombte Städte – neue Heimat auf dem Land

Nach dem Zweiten Weltkrieg mit seinen vielen Millionen Toten kamen die Neuankömmlinge in Hessen in dezentrale Durchgangslager. Von dort wurden sie überwiegend auf Dörfer und Kleinstädte verteilt, weil die größeren Städte zerbombt waren. Vielerorts wurden sie in die Häuser und Bauernhöfe der Einheimischen eingewiesen – man musste zusammenrücken. Das stieß nicht immer auf Begeisterung, von „Polacken“ war laut Vogel etwa die Rede. 

Hinzu kam nach seinen Worten „die hohe Arbeitslosigkeit, die unter den Vertriebenen herrschte“. Doch mit dem Zuzug hätten sich auch Industriezweige entwickelt, „die es zuvor in Hessen praktisch gar nicht gab, zum Beispiel die Glasindustrie, die aus dem Sudetenland kam“. 

Vertriebene gründen Gewerbe in einstigen Baracken für Gefangene

Als Einzelbeispiel nennt Vogel die Brokatweberei Egelkraut, 1922 im Egerland im heutigen Tschechien gegründet, die nach der Vertreibung der Inhaberfamilie 1948 in Baracken im einstigen Kriegsgefangenenlager Trutzhain im nordhessischen Schwalmstadt weitergeführt wurde – und bis heute besteht. Sie produziert beispielsweise Theatervorhänge.

Krzoska erläutert, der Marshall-Plan der USA, das westdeutsche Wirtschaftswunder und der damalige Hessenplan der Landesregierung für die Entwicklung strukturschwacher Regionen hätten wesentlich zur Integration der Heimatvertriebenen beigetragen. 

Landesvater Zinn: „Hesse ist, wer Hesse sein will“

Teils noch heute sichtbar sind Dorfgemeinschaftshäuser, deren Bau und Einrichtung auf den Hessenplan zurückgehen. Auch der Hessentag, Deutschlands größtes Landesfest, das wieder im Juni 2025 in Bad Vilbel über die Bühne geht, hat seine Erstauflage bereits 1961 erlebt – auch um Alteingesessene und Neubürger zusammenzuführen. „Hesse ist, wer Hesse sein will“, hat der damalige Ministerpräsident Georg-August Zinn (SPD) betont.

Laut Krzoska ist einerseits die einstige Integration so vieler Vertriebener in Hessen im heutigen Bewusstsein nicht mehr sehr präsent. Denkmäler, die an sie mancherorts noch erinnerten, würden kaum noch beachtet. Andererseits kennt fast jeder Hesse und jede Hessin Familiengeschichten mit Zuzug aus Ost- oder Südosteuropa vor acht Jahrzehnten. 

„Seltsamer deutscher Dialekt“

„Die Unterschiede zwischen Arm und Reich waren damals geringer als heute“, sagt der Historiker Krzoska. Auch das habe die Integration der Heimatvertriebenen vermutlich gefördert. Zudem habe es Sprachbarrieren wie heute bei Asylbewerbern meist nicht gegeben: „Die Vertriebenen haben höchstens einen für die Einheimischen seltsamen deutschen Dialekt gesprochen.“

Neue Dauerausstellung zur Geschichte der Vertriebenen

Erst vor wenigen Wochen ist im Freilichtmuseum Hessenpark in Neu-Anspach im Hochtaunuskreis eine neue Dauerausstellung zur Geschichte der Heimatvertriebenen vorgestellt worden, untergebracht in zwei originalgetreu wiederaufgebauten Notunterkünften für die einstigen Neuankömmlinge. Laut dem Bund der Vertriebenen (BdV) vermitteln in elf Themenräumen zahlreiche persönliche Zeugnisse, Objekte von Glaskunst bis zu Musikinstrumenten, Fotos und digitale Medienstationen „einen berührenden und differenzierten Einblick in das Schicksal und die Leistungen der Vertriebenen“.