Analyse: Giftige Lebensmittelfarbstoffe: Die EU sollte dem US-Verbot folgen

Der US-Gesundheitsminister Robert F. Kennedy verbietet erdölbasierte Lebensmittelfarbstoffe. Das haben auch deutsche Verbraucherschützer schon gefordert. Bisher vergeblich.

Im vergangenen Sommer verbreitete sich eine Warnung in den sozialen Medien: Aperol Spritz, das Lieblingssommergetränk der Deutschen, sollte angeblich krebserregend sein. Schuld seien die darin in ungewöhnlich hoher Konzentration enthaltenen Farbstoffe Gelborange (E110) und Cochinellerot A (E124). In den USA haben die Behörden bereits Maßnahmen getroffen: Cochinellerot A ist dort nicht zugelassen, und der Farbstoff Gelborange soll ab dem Jahr 2026 nicht mehr in Lebensmitteln verarbeitet werden.  

So will es der US-Gesundheitsminister Robert F. Kennedy Jr., der schon vor seinem Amtsantritt einen „Kampf gegen Big Food“ angekündigt hatte. Auf Kennedys schwarzer Liste stehen neben E110 noch sieben weitere synthetische Farbstoffe, von denen vier auch in der EU zugelassen sind. Sie müssen gekennzeichnet werden, Kunden finden sie auf Lebensmittel-Verpackungen unter den E-Nummern 102, 129 132 und 133.

Lebensmittelfarbstoffe könnten ADHS mit verursachen

Die synthetischen Stoffe färben Bonbons, Brausen, Gummibärchen oder Speiseeis knallig bunt – und sie alle stellen, so Kennedy, „eine echte, messbare Gefahr für die Gesundheit und Entwicklung unserer Kinder dar.“ 

Kennedy ist als ausgewiesener Verschwörungstheoretiker und Impfskeptiker der wohl umstrittenste Gesundheitsminister, den die USA jemals hatten. Seine Entscheidungen stehen schnell im Verdacht, alarmistisch zu sein. Doch in diesem Fall liegt Kennedy zumindest teilweise richtig. Schon länger existieren Hinweise, dass bestimmte synthetische Farbstoffe die neuronale Entwicklung bei Kindern beeinflussen und möglicherweise ein ADHS-Syndrom verursachen könnten.

Bereits im Jahr 2007 erhärteten Forschende der Universität Southhampton diese Hypothese in einer Studie an 153 dreijährigen und 144 neunjährigen Kindern. Die Europäische Behörde für Lebensmittelsicherheit (EFSA) stellte methodische Mängel in dieser Untersuchung fest und kam zum Schluss, dass die sie nur „begrenzte Belege“ für eine „geringfügige Auswirkung“ liefere.

Verpflichtende Warnhinweise auf Verpackungen

Dennoch wurden 2010 in der EU verpflichtende Warnhinweise für bestimmte Azofarbstoffe eingeführt: „Kann Aktivität und Aufmerksamkeit bei Kindern beeinträchtigen.“ Absender dieser Warnung ist nicht die EFSA selbst, sondern das EU-Parlament – rechtlich hat der Warnhinweis den Status einer „vorläufigen Risikomanagementmaßnahme“.

Die deutsche Verbraucherzentrale bemängelt dies als „halbherzige Lösung“, zumal Kinder sich ihre Süßigkeiten selbst kauften und sich wohl kaum von Warnhinweisen abschrecken ließen. Deshalb fordern die Verbraucherschützer, ebenso wie der gemeinnützige Verein Foodwatch, dass die sogenannten Azofarbstoffe generell verboten werden sollten – zumal sie auch Pseudoallergien mit Symptomen wie Hautausschlägen und Asthma auslösen könnten.

Für einzelne Azofarbstoffe wird mit Verweis auf Tierstudien auch ein Krebsrisiko diskutiert. Nach Einschätzung der Europäischen Behörde für Lebensmittelsicherheit (EFSA) gelten die in Lebensmitteln verwendeten geringen Mengen jedoch als gesundheitlich unbedenklich.

Einzige Ausnahme: Der Farbstoff Erythrosin (E 127) könnte tatsächlich Schilddrüsenkrebs mit verursachen. Die EFSA kommt in einer Bewertung der Fachliteratur aus dem Jahr 2011 zum Schluss, dass Erythrosin zwar nicht per se krebsauslösend wirkt, aber die Funktion der Schilddrüse in Tierversuchen nachweislich beeinflusst – der Krebs wäre dann die Langzeitfolge einer Schilddrüsenfunktionsstörung.

Die Risikobewertungen durch die EU-Behörde sind veraltet

In der EU darf Erythrosin lediglich für Cocktail- und kandierte Kirschen verwendet werden, in den USA findet man ihn bisher in mehreren tausend Lebensmitteln. Doch ab dem Jahr 2027 sollen sie in den Vereinigten Staaten verboten werden, so eine Verfügung der US Food and Drug Administration FDA, die bereits vor Kennedys Amtsantritt erging.

Die Risiko-Bewertungen durch die EFSA haben ein großes Problem: Sie sind zu alt. Zu den Farbstoffen, die nun auf Kennedys schwarzer Liste gelandet sind, finden sich Stellungnahmen aus den Jahren 2009 bis 2014, keine ist aktueller. Auf Nachfrage des stern antwortet die Behörde: „Als Risikobewerter ist die EFSA nicht an Risikomanagemententscheidungen beteiligt.“ Man handele im Auftrag der Europäischen Kommission, an die solle der stern sich wenden – oder aber an die „Risikomanager in den Mitgliedsstaaten“.

In Deutschland ist damit das Bundesinstitut für Risikobewertung (BfR) gemeint. Das aber spielt in seiner Antwort auf eine Anfrage des stern den Ball zurück an die EFSA: Eine wesentliche Voraussetzung für die Zulassung der infrage stehenden Lebensmittelfarbstoffe sei, dass die Verwendung gesundheitlich unbedenklich sei – und das prüfe eben die EFSA. Im Übrigen habe man „keine Erkenntnisse, die zu diesen oder weiteren zugelassenen Lebensmittelfarbstoffen gesundheitliche Bedenken rechtfertigen würden“.

Die Behörden schieben sich also gegenseitig die Verantwortung dafür zu, dass es keine aktuelleren Risikobewertungen gibt. Und eine Frage bleibt unbeantwortet: Warum braucht man überhaupt bestimmte synthetische Farbstoffe, für die immer wieder Gesundheitsgefahren diskutiert werden müssen? Warum ersetzt man sie nicht durch natürlichere Alternativen? 

Vielleicht kommen nun neue Impulse aus den USA, und zwar ausgerechnet von jener durch Kennedy personell stark geschwächten Lebensmittelüberwachungsbehörde FDA. Der Gesundheitsminister verspricht, dass die Forschung an Farbstoff-Alternativen nun vorangetrieben werden soll. Bleibt zu hoffen, dass sich dafür in der FDA noch kompetente Wissenschaftler finden.

Eine persönliche Schlussbemerkung: Meinen Aperol Spritz trinke ich weiterhin ohne größere Sorgen. Denn auch wenn es ein Krebsrisiko gäbe, liegt die Menge an Farbstoffen, die man mit ein oder sogar zwei Gläsern aufnimmt, weit unter den Höchstwerten, die die EFSA ermittelt hat. Ich bin zudem erwachsen und weder von ADHS betroffen oder bedroht. 

Auch wenn die EFSA-Risikobewertung nun schon länger her ist, muss man sich bewusst sein: Die weitaus größere Gesundheitsgefahr geht von einer anderen Substanz im Kultgetränk aus: Alkohol.