Auf dem SPD-Parteitag gibt Olaf Scholz den Vollsortimenter, will Kanzler für „die ganz normalen Leute“ sein. Und in einem Moment wird er auffallend selbstkritisch.
Danach gefragt, was ihr an der Rede des Kanzlers gefallen habe, sagt eine Genossin fast verblüfft: Er habe seine Politik erklärt. Gab‘ ja mal Zeiten, in denen selbst seine SPD nicht so recht wusste, was Olaf Scholz vorhat. Nichts gefehlt? Neee, vielleicht etwas Drive, ansonsten sei alles dabei gewesen.
Tatsächlich hat der Kanzler und nun auch hochoffiziell gekürte Kanzlerkandidat der Sozialdemokraten offenbar all seine Kraft darauf verwendet, kein Thema in seiner rund 50-minütigen Rede beim SPD-Parteitag am Samstagmittag auszusparen. Das soll ihn offenbar anschlussfähig für möglichst viele Wählerinnen und Wähler machen.
Die SPD liegt aktuell bei 14 bis 16 Umfrageprozent und kann wahrlich jede Wählerstimme gebrauchen, wenn ihr am 23. Februar ein Fiasko erspart bleiben soll. In seiner Parteitagsrede gibt sich Scholz daher als Vollsortimenter, als Kanzler in fünffacher Ausführung.
Der Ich-bin-nicht-Merz-Kanzler
Scholz erwähnt den Namen seines größten Gegners kein einziges Mal, nennt ihn partout „der Oppositionsführer“, als wolle er Friedrich Merz als Kanzlerkandidaten der CDU/CSU nicht unnötig aufwerten. Schließlich steht die Union fast doppelt so stark dar in den Umfragen wie die SPD.
Scholz verwendet einen großen Teil seiner Rede darauf, sich an seinem Kontrahenten abzuarbeiten, den Kontrast zwischen sich („Klarheit, Besonnenheit und Erfahrung“) und Merz („Sprücheklopfer“, „uralte Rezepte“) in die Köpfe zu klopfen. Der Union und ihrem Spitzenmann spricht Scholz praktisch jedes schlüssige Konzept für die Zukunft ab und wirft ihr vor, nur „teure Versprechen“ zu machen und vieles im Ungefähren zu lassen. „Jetzt ist nicht die Zeit für Politik auf dem Rücken der ganz normalen Leute“, ruft Scholz. „Oder knapp: Jetzt ist nicht die Zeit für CDU/CSU!“
Scholz‘ Strategie ist klar: Er will den Kontrast zu Merz so groß (und teils grob) wie nur möglich pinseln und den Unionskandidaten als inkompetent für das Amt darstellen. Viele Sozialdemokraten halten die Fokussierung gegen diese „Merz-CDU“ auch für riskant, wollen lieber die eigene Politik im Mittelpunkt stehen sehen.
Der Normale-Leute-Kanzler
Sein „Respekt“-Wahlkampf führte Scholz 2021 ins Kanzleramt, nun will er es offenbar als Anwalt „der ganz normalen Leute“ versuchen. Nicht der „kleinen Leute“, nein – das sei ein bisschen von oben herab, findet Scholz und verortet diese Rhetorik (kaum überraschend) bei der CDU, bei der „diese Geringschätzung aus allen Knopflöchern“ quille. Fragt sich nur: Wer sind diese „ganz normalen Leute“, eine recht beliebig erscheinende Zielgruppe? Scholz buchstabiert sie tatsächlich aus, es ist beinahe bizarr: Arbeitnehmer, Handwerker, Pflegekräfte, Feuerwehrleute, Reinigungskräfte, Mieter, Beatme, Angestellte, Familien, Rentner… „Sie alle!“, ruft Scholz. Und meint es offenbar wörtlich.
Diese „ganz normalen Leute“ zahlten oftmals die Zeche für kostspielige Versprechungen, meist zugunsten „der oberen Zehntausend“. Im SPD-Programm stünden daher keine Steuersenkungen für Spitzenverdiener. „Wer das wirklich will, muss CDU wählen. Oder FDP“, betont Scholz in kaum verhohlener Klassenkampf-Rhetorik. Seine SPD setzt hingegen – auf altbekannte Rezepte – wie eine Erhöhung des Mindestlohns auf 15 Euro und höhere Steuern für Superreiche, um untere Einkommensgruppen zu entlasten.
Die „ganz normalen Leute“ wollten ernst genommen werden, sagt Scholz, auch beim Klimaschutz. Bevormundung sei das falsche Rezept, stattdessen sei Pragmatismus gefragt. Nur dann könne das Unterfangen der Klimaneutralität gelingen. Wer gemeint sein soll, ist klar – doch Scholz erwähnt die Grünen oder ihren Kanzlerkandidaten Robert Habeck in seiner gesamten Rede mit keiner Silbe. Alles andere würde seine Erzählung vom Zweikampf gegen Merz konterkarieren.
Der Sowohl-als-auch-Kanzler
Zu Scholz‘ Argumentationslinie gehört auch, dass nichts gegeneinander ausgespielt werden dürfe, etwa die innere und äußere Sicherheit gegen die Wirtschaft oder die Gesundheitsversorgung gegen die Ukraine-Unterstützung. Scholz macht diese Gegensätze selbst auf, um sich dann als Bollwerk gegen das „Entweder-Oder“ zu gerieren. Dafür habe die SPD auch in den vergangenen drei Ampel-Jahren gestanden, die Scholz als „anstrengende“ Zeit bezeichnet – die Koalition hätte er früher beenden sollen, sagt Scholz. Ein leiser Anflug von Selbstkritik, den die Genossen prompt mit anhaltendem Applaus bedenken. Den Beifall für sein Eingeständnis muss Scholz als Wink mit der Dachlatte verstehen: Es geht auch Kanzler-Sein und eigene Fehler benennen – auch kein Entweder-Oder.
Der Ein-bisschen-Frieden-Kanzler
Scholz selbst bringt seine schwierige Doppelrolle in der Ukraine-Politik auf diese Formel: „In Deutschland gibt es eine politische Kraft, die ohne Wenn und Aber zur Ukraine steht – und die zugleich darauf achtet, dass wir nicht hineingezogen werden in diesen Krieg.“ In anderen Worten: Unbedingte Unterstützung – aber nicht zu viel.
Ein Zweiklang, der auch die Friedensbewegten in Land und Partei adressieren soll, eine Reihe enttäuschter Sozialdemokraten aber auch schon in die Arme von Sahra Wagenknecht getrieben hat. Der Kanzler will sich als tatkräftiger Unterstützer des von Russland angegriffenen Landes positionieren, der bei allen Eskalationen einen kühlen Kopf bewahre und gleichzeitig auf „echte“ und für die Ukraine „gerechte“ Friedensverhandlungen hinarbeite. „Ich bleibe standhaft und besonnen“, verspricht Scholz, darauf könnten sich alle verlassen.
Klammer auf: Nicht bei einem Friedrich Merz. Dass er der „Nuklearmacht Russland“ im Bundestag ein „Ultimatum“ gestellt habe und es dann nicht mehr so gemeint haben wolle, habe in Scholz‘ Augen weder von Standfestigkeit noch von Besonnenheit gezeugt. „Der Verantwortung, die mit einer Kandidatur für das Amt des Bundeskanzlers einhergeht, werden solche Kapriolen jedenfalls nicht gerecht.“
Der Kann-es-Kanzler
Dramatische Dinge würden in diesen Wochen passieren, überall auf der Welt, aber auch „direkt vor unserer Haustür“, beginnt Scholz seine Rede düster intoniert, um die Fallhöhe für die folgenden 50 Minuten zu setzen. Österreich habe bald einen „klipp und klar“ rechten Bundeskanzler, durch Russlands hybride Kriegsführung sei auch die Sicherheit in Deutschland bedroht und überhaupt seien die Zeiten „verdammt ernst“ und „überdreht“.
Robert Habeck Meldung Verteidigungsausgaben 05.58
Scholz will sich in dieser Gemengelage als Stabilitätsfaktor präsentieren, als erfahrener Staatsmann, mit dem es innen- wie außenpolitisch keine waghalsigen Experimente gäbe und als Kanzler, der trotz allem noch die irreguläre Migration begrenzt oder Gaskrise abgewendet hat. Es hätte einen kaum verwundert, wenn Scholz in Anlehnung an seine Amtsvorgängerin Angela Merkel gesagt hätte: Sie kennen mich. Aber das ist für viele Wählerinnen und Wähler ausweislich der Umfragen ein gewisses Hemmnis. Scholz steht als (nunmehr ehemaliger) Ampel-Kanzler auch für den Status Quo.
Der unpopuläre Scholz ist sich der misslichen Ausgangslage seiner Partei bewusst, räumt ein, dass es nicht leicht sei. „Aber ich weiß auch: Winterwahlkämpfe können ein gutes Ende nehmen.“ In Hamburg habe er sich zweimal im Februar zur Wahl gestellt und „zweimal klar gewonnen“, sagt Scholz. Das mache Mut, findet der Kanzler. Aber ob das reicht, wird sich am 23. Februar zeigen.