Dass Recep Tayyip Erdogan die Kurden in der Türkei und Syrien fürchtet und verabscheut, ist bekannt. Aber, wieso noch gleich? Und überhaupt: Wer sind die Kurden eigentlich?
Verachtung kostet nicht nur Kraft und Zeit, sie erfordert echte Leidenschaft. An der mangelt es dem türkischen Präsidenten bekanntlich nicht, wenn es um seinen Erzfeind geht. Nun ist dieser allerdings kein Oppositioneller, Medienmogul oder ausländischer Staatschef. Es ist das größte Volk der Welt ohne eigenes Land, das Recep Tayyip Erdogan keine Ruhe lässt.
Warum? STERN PAID 51_24 Titel Syrien 11.55
Wer sind die Kurden?
Die Kurden sind ein Volk. Genau wie Deutsche, Franzosen, Briten, Türken. Sie eint eine gemeinsame Herkunft, Kultur und Sprache (mit verschiedenen Dialekten) – aber keine übergreifende Religion, obwohl die Mehrheit der Kurden sunnitische Muslime sind. Die Schätzungen, wie viele Menschen sich als Kurden identifizieren, gehen auseinander, vermutlich sind es weltweit zwischen 25 und 35 Millionen.
Das historische Kurdistan erstreckt sich über mehrere moderne Staatsgrenzen hinaus:
Einen international anerkannten eigenen Staat hatten die Kurden nie, obwohl sie nach dem Ersten Weltkrieg und dem damit verbundenen Untergang des Osmanischen Reiches nah dran waren. Die westlichen Siegermächte hatten ihnen im Vertrag von Sèvres die Unabhängigkeit in Aussicht gestellt. Am Ende wurden sie stattdessen unter vier Staaten aufgeteilt – und sind bis heute heimatlos geblieben. Je nach Region genießen die Kurden staatlich anerkannte Autonomie (wie im Irak), agieren zumindest teilweise autonom (wie in Syrien) oder werden kulturell und politisch unterdrückt (wie im Iran und in der Türkei).
Was ist die PKK?
Wer verstehen will, warum die Kurden in der Türkei einen so schweren Stand haben, muss einen Blick zurück tun.
In den 1920er und 30er Jahren, die Türkei war gerade erst gegründet, der Traum von Kurdistan damit geplatzt, rebellierten die türkischen Kurden, die allein rund die Hälfte des kurdischen Volkes stellen. Die Konsequenz: Zwangsumsiedlungen, Verbot von kurdischen Namen und traditioneller Kleidung, Einschränkung der kurdischen Sprache. Ankara leugnete sogar, dass es ein kurdisches Volk überhaupt gab, sprach stattdessen von „Bergtürken“. Aber damals wie heute ließ sich die Identität von Millionen Menschen nicht einfach wegdenken.
1978 gründete Abdullah Öcalan, Sohn einer türkischen Mutter und eines kurdischen Vaters, die Partiya Karkerên Kurdistanê, die Arbeiterpartei Kurdistans. Ziel dieser sozialistisch-militanten PKK (die in Syrien, Irak und Iran Schwesterorganisationen hat) war bis in die 90er Jahre die Gründung eines kurdischen Staats, später wenigstens politische Autonomie. Und sei es mit Gewalt. Seit den ersten bewaffneten Attacken in den 80ern verloren mehr als 40.000 Menschen im Kampf für, gegen oder durch die PKK ihr Leben. Die Partei wird nicht nur in der Türkei, sondern auch von den USA und der EU als Terrororganisation eingestuft.
Flagge der in Deutschland verbotenen kurdischen Arbeiterpartei PKK
© Lukas Schulze
2013 schlossen die türkische Regierung und die PKK-Führung einen Waffenstillstand. Der hielt allerdings gerade einmal zwei Jahre. Im Juli 2015 starben 33 Menschen in der mehrheitlich kurdischen Stadt Suruç nahe der syrischen Grenze. Ankara machte den Islamischen Staat verantwortlich, die PKK beschuldigte den relativ frisch als Präsident vereidigten Recep Tayyip Erdogan, seine Finger im Spiel gehabt zu haben. Der wiederum erklärte der PKK und dem IS „synchronisierten Krieg gegen den Terror“ – in dieser Reihenfolge. „Es gibt keine echte nationalistische Wut gegen [den] IS, aber es gibt eine nationalistische Wut gegen die PKK“, sagt Politikwissenschaftler Omer Taspinar von der US-Denkfabrik „Brookings Institute“ der „Washington Post“.
Erdogan und die Kurden
Als Autokrat in spe setzt Erdogan auf Nationalismus und nationale Sicherheit – ein Feindbild ist also schlicht nützlich. Wann immer ein politischer Gegner gefährlich wird, suggeriert er eine Verbindung zur PKK, die die Einheit der Türkei bedroht. So erging es einst der linken Partei HDP.
Seit dem Putschversuch des Militärs 2016 wittert Erdogan Feinde an jeder Ecke. Er ließ schätzungsweise 50.000 Menschen festnehmen und verstärkte die Angriffe auf kurdische Separatisten – oder solche, die es sein könnten. Solange er die PKK-Ableger im Nahen Osten militärisch in Schach hält, glaubt Erdogan eine geeinte, länderübergreifende kurdische Revolution im Keim ersticken zu können.
Kurden dürfen in der Türkei dann Kurden sein, wenn sie die türkische Staatsbürgerschaft anerkennen. „Das Problem beginnt, wenn sie eine Identität mit Bindestrich wollen“, so Politikwissenschaftler Taspinar. Zu Hause ging Erdogan zuletzt merkwürdige Wege.
Im Oktober schüttelte sein Juniorpartner Devlet Bahçeli – Chef der rechtsextremen MHP, Spitzname „Kurdenschlächter“ – öffentlichkeitswirksam die Hände von Abgeordneten einer pro-kurdischen Partei. Wenig später überraschte Bahçeli mit dem Vorschlag, den PKK-Gründer, der seit 25 Jahren hinter Gittern sitzt und auf den Tod wartet, zu begnadigen, sollte sich seine Bewegung auflösen. Es ist ausgeschlossen, dass Bahçeli ohne Erdogans Segen handelte.
Experten spekulieren, dass Erdogan die Opposition beschwichtigen will, um die Verfassung zu ändern, damit er über 2028 hinaus regieren kann. Eigentlich ist der Posten des Staatspräsidenten auf zwei Amtszeiten à fünf Jahre beschränkt. Eine Regel, die Erdogan bereits bei der letzten Wahl 2023 sehr frei ausgelegt hatte, als er die Türken dazu aufrief, „ein letztes Mal“ für ihn zu stimmen. Doch selbst wenn er 2028 erneut kandidieren darf, wäre die Wahl kein Selbstläufer. Erdogans Hass auf die Kurden rührt auch daher, dass er sie nicht ignorieren kann, zumindest ihre Macht an den Wahlurnen. Jeder fünfte Türke ist Kurde. Und es werden mehr. Ihre Geburtenrate ist deutlich höher als im Rest des Landes.
Wie steht es um die Kurden in Syrien?
Auch in Syrien wurden Kurden über Jahrzehnte unterdrückt, obwohl sie zehn Prozent der Bevölkerung stellen. Immer wieder wurde ihnen Land weggenommen und an Araber verteilt, selbst die Staatsbürgerschaft blieb Hunderttausenden verwehrt. Als der Bürgerkrieg ab 2011 für ein Machtvakuum im Nordosten sorgte, nutzen die Kurden die Gunst der Stunde.
Heute kontrolliert die YPG, der militärische Arm der lokalen kurdischen Arbeiterpartei PYD, mindestens ein Viertel der Staatsfläche. Seit inzwischen mehr als zehn Jahren regiert sich dieses syrische Kurdistan (genannt Rojava) weitgehend autonom. Die PYD behauptet, kein unabhängiges Kurdistan auf syrischem Boden anzustreben, sondern fordert ein Mitspracherecht nach Kriegsende. PAID Syrien Bilanz 11.45
Der gestürzte Diktator Baschar al-Assad hatte sich mit diesem dauerhaften Provisorium arrangiert – vor allem, weil die Kurden die USA an ihrer Seite wussten, hatten sie doch als Teil der Syrian Democratic Forces (SDF) mit den Amerikanern den Islamischen Staat (IS) auf syrischem Boden nahezu vollständig zerschlagen. Als der IS 2019 offiziell Geschichte war, zogen sich die USA auf Geheiß ihres Obersten Befehlshabers Donald Trump aus dem Norden Syriens zurück – ein „Stich in den Rücken“, wie die Kurden es nannten.
Auf die Gelegenheit hatte Erdogan nur gewartet, dem ein kurdisches Autonomiegebiet an der Südgrenze der Türkei wenig überraschend so gar nicht passte. Er kündigte an, eine 32 Kilometer tiefe „Sicherheitszone“ entlang der Grenze einzurichten. In diesem Niemandsland wollte er Millionen (teurer) syrischer Flüchtlinge unterbringen, die bis dahin in der Türkei untergekommen waren.
Die Lage in Syrien – wer welche Gebiete kontrolliert
© F. Bökelmann / S. Stein / J. Reschke
Die Kurden sahen sich gezwungen, neue Freunde zu finden – und fanden sie. In Damaskus. Um die türkischen Vorstöße abzuwehren, gingen sie, dank freundlicher russischer Vermittlung, ein Zweckbündnis mit Assad ein. Heute, fünf Jahre später, stehen die syrischen Kurden wieder ohne Partner da. Von Assads Sturz profitiert also vor allem einer: Erdogan.