Jeder fünfte Erwachsene in Deutschland kann nicht richtig lesen und schreiben. Die Bildungswissenschaftlerin Anke Grotlüschen erklärt, warum das die Demokratie gefährdet.
Frau Grotlüschen, Sie haben anhand von zwei Studien die Lese- und Schreibkompetenzen von Erwachsenen analysiert, die sogenannte Literalität. 20 Prozent der 18- bis 65-Jährigen in Deutschland haben damit große Schwierigkeiten. Das sind mehr als zehn Millionen Menschen. Was läuft da falsch?
Die Zahl ist zu hoch – aber sie ist in den vergangenen Jahren trotz steigender Zuwanderung und Pandemie immerhin stabil geblieben. Damit weniger Menschen Schwierigkeiten haben, müssen wir mehr in Erwachsenenbildung investieren. Das ist nicht nur für die betroffenen Menschen wichtig. In Ländern wie Polen, Ungarn und Italien können wir sehen: Von geringer Literalität profitieren populistische Parteien.
Geringe Schreib- und Lesekompetenzen sind eine Gefahr für die Demokratie?
Ja, denn betroffene Menschen haben deutlich weniger Vertrauen in unsere politischen Institutionen. Sie glauben nicht, dass sie einen Einfluss auf die Regierung haben oder dass unsere Demokratie sich um ihre Probleme kümmert. Unsere Analysen zeigen: in Ländern mit populistischen Regierungen fühlen sich die gering literalisierten Menschen politisch eher gehört.
Warum?
Populisten nutzen geringe Literalität für ihre Zwecke. Sie machen simple Versprechen, die leicht zu verstehen sind: Wir helfen dir. Hinzu kommt, dass Menschen ohne Lesekompetenz anfälliger sind für Falschmeldungen. In Wahrheit passiert ja oft das Gegenteil von dem, was in den Parteiprogrammen der Populisten steht: Dort, wo sie regieren, steigen die Kompetenzverluste und die Zahl der gering Literalisierten deutlich.
Und in Deutschland?
Hier haben populistische Parteien zum Glück noch kaum Einfluss auf die Bildungspolitik. Aber auch in Deutschland wächst die Lücke zwischen Menschen mit hoher und niedriger Bildung. Die wachsenden ökonomischen Unterschiede sorgen für diese extreme Ungleichheit bei den Bildungschancen.
Wer ist davon besonders betroffen?
Es sind mehr ältere als jüngere Menschen, die Probleme mit dem Lesen und Schreiben haben. Das liegt an der Bildungsexpansion, von der jüngere Jahrgänge stärker profitieren: Sie sind im Schnitt viel länger zur Schule gegangen und studieren häufiger als ältere Jahrgänge. Überraschenderweise sind es inzwischen auch mehr Männer als Frauen, warum, können wir noch nicht genau sagen. Und 46 Prozent der gering Literalisierten sprechen Deutsch nicht als Muttersprache. Es sind aber nicht nur die Zugewanderten und die Menschen mit Behinderung, die nicht lesen und schreiben können.
Sondern?
Ein beträchtlicher Teil sind deutsche Muttersprachler, und zwar ohne diagnostizierte Lernschwierigkeiten. Häufig kommen sie aus sozioökonomisch benachteiligten Familien. Für sie ist es nicht gut gelaufen in der Zeit, als sie das Lesen und Schreiben hätten lernen sollen.
Was bedeutet es beruflich für die betroffenen Menschen, nicht richtig lesen und schreiben zu können?
Geringe Kompetenzen im Schreiben und Lesen bedeuten: einfache Tätigkeit, wenig Geld, keine Aufstiegschancen. Plakativ gesagt: Es heißt, morgens die Brötchen schmieren, die wir beim Bäcker kaufen. Und es gibt nun mal keine Weiterbildung im Brötchenschmieren. Selbst für die Schichtleitung reicht es oft nicht: Um Brötchenbestellungen aufzugeben, Personal zu koordinieren, muss man schreiben und lesen können.
Können zehn Millionen Menschen in Deutschland denn tatsächlich gar nicht lesen und schreiben?
Ich sage immer: Oberhalb einer Postkarte ist für diese Menschen Schluss. Sie können einfache Sätze lesen, ein paar Wörter schreiben, vielleicht mit einigen Fehlern. Längere Sätze sind kaum zu bewältigen.
Was heißt das für den Alltag?
Aufgaben wie Online-Banking oder Arztbesuche werden schon zum Problem. Man kann keine Handyverträge miteinander vergleichen oder Diagnosen nachgoogeln. Viele Betroffene sind verunsichert, sie schämen sich und trauen sich selten, mitzureden.
Wie können die Leute besser gefördert werden?
Es ist gar nicht leicht, sie zu erreichen. Sie tragen ja kein Schild auf der Stirn, auf dem steht, dass sie nicht richtig schreiben und lesen können. Viele Projekte versuchen deshalb, die Menschen in ihrem Umfeld zu erreichen: in Kitas, Schulen, Sportvereinen. Und natürlich brauchen wir Geld aus dem Bildungsministerium: für mehr Forschung und für mehr Weiterbildung. Aktuell ist zu befürchten, dass das Bildungsministerium die Finanzierung kürzt.