Geburten: Ob es ein Junge wird oder ein Mädchen, ist nicht nur Zufall

Die Chance, ein Mädchen oder einen Jungen zu bekommen, ist nicht immer fifty-fifty, besagt eine neue Studie. Vor allem in kinderreichen Familien gibt es Überraschungen.

Die meisten Eltern würden es nicht zugeben, aber natürlich wünschen sich viele werdende Mütter und Väter, dass das Baby ein bestimmtes Geschlecht hat, dass es ein Junge wird oder eben ein Mädchen, je nach Vorliebe. Einfluss darauf haben sie jedoch keinen – es sind die Geschlechtschromosomen X und Y, die die das biologische Geschlecht bestimmen: So ergibt die Kombination X mit X ein Mädchen, die Kombination X mit Y einen Jungen. In der Forschung spricht man vom „sex at birth“, wenn es um die reine Biologie geht, Fragen rund um das Thema „Gender“ bleiben ausgeklammert.

Da Spermium und Eizelle nur den halben Chromosomensatz beinhalten – zusammen sollen sie ja einen kompletten neuen ergeben –, hat die Eizelle immer ein X. Spermien aber können ein X oder Y in sich tragen. Was dann zusammenkommt, sei also reiner Zufall, könnte man denken. Doch die Zahl der Lebendgeburten zeigt beim Statistischen Bundesamt zum Beispiel durchgängig einen Überschuss männlich geborener Kinder: knapp 40.000 waren es etwa 1950, gut 18.000 im vergangenen Jahr. Bezogen auf die gesamte Geburtenzahl in einem Jahr liegt der Frauenanteil damit immer rund 1,5 Prozent unter der Gleichverteilung. Bislang gibt es für diese auch international beobachtete Abweichung vom Zufall nur vage Erklärungen. Da junge Männer ein höheres Sterberisiko als junge Frauen haben und Frauen im Schnitt einige Jahre länger als Männer leben, könnte ein männlicher Geburtenüberschuss dieses Defizit per Evolution in etwa ausgleichen. Dass auch katastrophale Ereignisse wie Kriege oder Seuchen das Zahlenverhältnis der Geschlechter beeinflussen, wird zwar oft vermutet, tragfähige Beweise aber gibt es dafür bislang nicht.

Das Geburtsgeschlecht bestimmen natürlich auch Faktoren, die Elternpaare selbst entscheiden können – ob sie überhaupt Kinder wollen zum Beispiel und wie viele. Auch die Geschwisterfolge ist spannend: Gibt es familiäre Häufungen bei der Geschlechterverteilung? Für diesen Eindruck reicht meist schon ein Blick in den weiteren Bekanntenkreis. Genau um solche Fragen ging es jedenfalls einem Team der Harvard University, das jetzt im Fachjournal „Science Advances“ eine statistische Analyse auf einer breiten Datenbasis aus den USA vorgelegt hat.

Babys: Mehr als 14.000 Geburten ausgewertet

Die statistische Basis bildeten Daten der schon 1976 in den USA begonnenen „Nurses‘ Health Study“ (NHS), an der seither hunderttausende Krankenschwestern freiwillig teilgenommen haben, um vor allem das Risiko von Frauen für Krebs und Herz-Kreislauf-Erkrankungen besser erforschen zu können. Um für alle Geburten möglichst gleiche Bedingungen zu haben, wurden für die jetzt vorgelegte Studie zum Beispiel alle Zwillings- oder Mehrlingsgeburten ausgeschlossen, auch die Daten aller Frauen, die bereits wegen Unfruchtbarkeit behandelt worden waren oder die Früh- oder Totgeburten beklagen mussten. Ausgeschlossen wurden auch alle Frauen, die nur ein Kind zur Welt gebracht hatten. Denn das Ziel war es ja, mögliche familiäre Häufungen eines bestimmten Geschlechts in einer Geschwisterfolge zu entdecken. Von anfangs etwa 100.000 schwangeren Frauen in zwei Erfassungswellen der NHS blieben so schließlich 58.007 mit insgesamt 146.046 Geburten übrig. 

Abweichungen vom Zufall

Wenngleich sie nicht groß waren, so gab es doch deutliche Abweichungen vom Zufall. Die waren umso größer, je größer eine Familie war. Mit der Anzahl der Kinder stieg also die Wahrscheinlichkeit, dass ein Kind dasselbe Geschlecht hatte wie das vorausgegangene. Für den Fall, dass es in einer Familie beispielsweise schon drei Jungen gab, lag die Wahrscheinlichkeit für einen weiteren Jungen bei 61 Prozent. Ein ähnliches Ergebnis kam auch für die Mädchen heraus: Auf drei weibliche Geburten in einer Familie folgte mit 58 Prozent Wahrscheinlichkeit ein weiteres Mädchen. Fragt man nach dem Geschlechterverhältnis, kommt es also darauf an, welche Perspektive man dabei einnimmt. Mag die Wahrscheinlichkeit für beide Geschlechter in der Gesamtbevölkerung auch ungefähr gleich verteilt und vom Zufall geprägt sein, so kann in kinderreichen Familien ein bestimmtes Geschlecht durchaus bevorzugt auftreten.

Eizellen sind wählerisch

Was genau das Geschlechterverhältnis bestimmt, ist sowohl für einzelne Familien als auch mit Blick auf die Gesamtbevölkerung wenig verstanden. Zumindest ist das Zusammenkommen von Spermium und Eizelle nicht rein zufällig, wie auch Experimente schon gezeigt haben. Überspitzt könnte man sagen, Eizellen sind wählerisch. Ein Spermium, das besonders schnell ans Ziel gelangt, kommt deshalb nicht etwa auch schon zum Zuge. Eine Chance haben ohnehin nur etwa 1000 von einer Million Spermien. Und bei denen muss die chemische Kommunikation zwischen den beiden potenziellen Partnern stimmig sein.

Bei der Auswahl eines Spermiums scheint das Vaginalsekret um die Eizelle eine wichtige Rolle zu spielen. In der jetzt vorliegenden statistischen Analyse zeigte sich, dass mit steigendem Alter der Mutter auch die Wahrscheinlichkeit steigt, ein weiteres Kind vom selben Geschlecht wie zuvor zur Welt zu bringen. Physiologisch könnte ein Grund dafür sein, dass sich mit den Jahren beispielsweise der pH-Wert der Vagina verändert, die Umgebung für die Befruchtung also saurer wird. Auch wird die Zeitspanne für eine Befruchtung knapper. Die Forschenden räumen aber ein, dass individuelle Voraussetzungen zu unterschiedlichen Verhältnissen führen. Entsprechend gibt es in der einen Familie mehr Mädchen, bei einer anderen mehr Jungen. Nur das scheint schon sicher: Über das Geschlecht eines Kindes entscheidet nicht allein der Zufall.