Vor 100 Jahren erschien Hitlers Propagandaschrift „Mein Kampf“. Die Politikwissenschaftlerin Barbara Zehnpfennig erklärt, warum Schüler Auszüge daraus im Unterricht lesen sollten.
Frau Professorin Zehnpfennig, am 18. Juli 1925 erschien der erste Band von Adolf Hitlers „Mein Kampf“. Kann das Buch 100 Jahre nach seiner Erstveröffentlichung Leserinnen und Leser noch zu einer nationalsozialistischen Weltanschauung verführen?
Eine unmittelbare Verführungskraft sehe ich nicht. Der Stil von „Mein Kampf“ ist sehr unbeholfen, es finden sich viele historische Anspielungen, die man als Leser entschlüsseln können muss, und die immer wieder vorkommenden Hasstiraden wirken ziemlich abstoßend. Außerdem hat das Buch rund 800 Seiten, durch die es sich hindurchzuarbeiten gilt. Um sich ernsthaft auf die Lektüre des gesamten Buches einzulassen, muss man meines Erachtens entweder historisches Interesse haben oder schon ideologisch einschlägig vorbelastet sein. Sich von der Lektüre verführen zu lassen halte ich für schwer vorstellbar.
Warum ist eine Auseinandersetzung mit diesem Buch heute überhaupt noch wichtig?
Ich halte es für sehr wichtig, zu kennen, wogegen man sich wendet. Gegen „Nazis“ zu sein genügt nicht, man muss schon wissen, wofür der Nationalsozialismus steht. Er ist zwar nicht auf die Person Hitlers zu reduzieren, wurde aber doch entscheidend von ihm geprägt. Deshalb muss man sich, wenn man den Nationalsozialismus verstehen will, mit „Mein Kampf“ auseinandersetzen. Dieses Buch bietet einen einzigartigen Einblick in die Gedankenwelt Hitlers. Man kann minutiös nachvollziehen, wie er zu seiner Weltanschauung gelangte, man erfährt, wie grundlegend sie für seine politischen Pläne war, man kann nachlesen, wie sein innenpolitischer Fahrplan und sein außenpolitisches Programm aussahen. Insofern ist „Mein Kampf“ eine Quelle von außerordentlichem Rang, an die man kompetent herangeführt werden sollte. Voraussetzung für einen fruchtbaren Umgang mit dem Text ist jedoch die grundlegende Einstellung, nicht mit der Bewertung anzufangen, sondern erst einmal verstehen zu wollen. Nur Verstandenes kann auch zielgerecht bekämpft werden.
Sollten Passagen aus „Mein Kampf“ im Schulunterricht Verwendung finden?
Ja, ich halte es für unabdingbar, Auszüge aus „Mein Kampf“ im Schulunterricht zu lesen und gemeinsam zu besprechen. Der Nationalsozialismus ist nicht nur ein Teil unserer Geschichte. Das ihm zugrundeliegende Denken bezeichnet vielmehr eine Möglichkeit der Weltdeutung, die immer wieder in neuer Gestalt auftreten kann. Deshalb ist es so wichtig, sich damit auseinanderzusetzen. Dazu bedarf es der Auswahl aussagekräftiger Textstellen, der Erklärung der historischen Hintergründe und Bezüge sowie der Analyse der gedanklichen Zusammenhänge. Das zu leisten ist Aufgabe der Wissenschaft. Sie kann die Hilfsmittel dazu bereitstellen, dass auch der interessierte Bürger Zugang zum Text findet. Es gibt etwa den historischen „Mein Kampf“-Kommentar des Münchener Instituts für Zeitgeschichte, es gibt die beiden von mir verfassten, auf Textanalyse beruhenden Kommentare dazu, und es gibt viele weitere hilfreiche Literatur, die dem Leser Verständnis und Einordnung erleichtern. Das sollte man nutzen.
Prof. Dr. Barbara Zehnpfennig ist deutsche Politikwissenschaftlerin. Von 1999 bis zu ihrer Emeritierung 2022 war sie Universitätsprofessorin für Politische Theorie und Ideengeschichte an der Universität Passau. Einer ihrer Forschungsschwerpunkte ist bis heute Adolf Hitlers „Mein Kampf“
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Unter den richtigen Voraussetzungen kann „Mein Kampf“ also ein Zugang sein, um den Nationalsozialismus besser zu verstehen. Welche Bedeutung hatte „Mein Kampf“ für Hitlers Aufstieg?
Die Rolle, die das Buch für Hitlers Aufstieg spielte, ist umstritten. Zu vermuten ist aber, dass seine Tätigkeit als Redner der Bewegung den entscheidenden Schub verschafft hat und weniger das Buch, dessen Autor er ist.
Warum trägt es den Titel „Mein Kampf“?
Der Titel wurde Hitler offenbar von seinem Verlag vorgeschlagen, nachdem der ursprüngliche Titel zu sperrig war. Er lautete nämlich: „Viereinhalb Jahre Kampf gegen Lüge, Dummheit und Feigheit“. Aber der Titel „Mein Kampf“ bringt hervorragend auf den Punkt, was Hitlers zentrales Anliegen war: Er glaubte, dass der Kampf in jeder Form – als Lebenskampf, Konkurrenzkampf, Kampf gegen die eigenen Schwächen, als kriegerischer Kampf – die Grundvoraussetzung für die Herausbildung einer überlebensdienlichen Ordnung und für Fortschritt ist. Das Aufgeben des Kampfes bedeutete in seinen Augen Niedergang und Untergang. Das erklärt meines Erachtens auch seinen Judenhass.
Inwiefern?
Hitler sah in den Juden das Volk, welches das natürliche Kampfgeschehen unterminiert, indem es via Marxismus Gleichheit propagiert, via Kapitalismus die Menschen zum Genussleben animiert und via Pazifismus und Liberalismus den Kampf als unmoralisch qualifiziert. Hinter allem nahm er also einen großen Plan des Judentums wahr, durch die Demoralisierung des Gegners kampflos an die Macht zu gelangen, was für ihn den Untergang der Menschheit bedeutete. Deshalb war die Rehabilitierung des Kampfes für ihn alles entscheidend.
Um das Buch und seine Entstehung ranken sich viele Mythen. Zum Beispiel, dass Hitler 1924 während seiner Haft im Gefängnis in Landsberg dem Mithäftling und ebenfalls NSDAP-Mitglied Rudolf Heß sein Werk diktiert hat. Und in der Nachkriegszeit hieß es, dass die meisten Besitzer des Buches es in der NS-Zeit gar nicht gelesen hätten. Was hat es mit der Mystifizierung auf sich?
Die Legende, dass Hitler seinen Text Rudolf Heß diktiert habe, wurde wohl von einem Landsberger Wachmann in die Welt gesetzt. Inwieweit es nur ein Mythos ist, dass die meisten „Mein Kampf“ gar nicht gelesen haben, ist hingegen nicht mit Sicherheit festzustellen. Insgesamt lässt sich sagen: Tabus fördern Mystifikationen. Je unzugänglicher eine Quelle ist, umso mehr kann man in sie hineingeheimnissen.
Nach einem gescheiterten Putschversuch saß Adolf Hitler 1924 neun Monate in Haft. Auch andere Persönlichkeiten der nationalsozialistischen Bewegung, darunter Emil Maurice, Oberstleutnant Hermann Kriebel, Rudolf Heß (im Bild 2.v.r.) und Friedrich Weber, waren damals in der Festung Landsberg am Lech inhaftiert
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Nach Hitlers Tod erhielt der Freistaat Bayern die Rechte an „Mein Kampf“. Und Bayern hielt am Urheberrecht fest, sodass es lange verboten war, „Mein Kampf“ in Deutschland nachzudrucken. Jahrzehntelang wurden die Texte aus „Mein Kampf“ quasi weggesperrt. Was waren die gesellschaftlichen Auswirkungen?
„Mein Kampf“ war damals im Münchener Eher-Verlag erschienen, und der Freistaat Bayern trat die Rechtsnachfolge dieses Verlags an. Er schätzt das Buch offenbar als so gefährlich ein, dass er es unter Verschluss hielt und jeden Nachdruck untersagte. Gegen die schon vorhandenen Exemplare konnte er allerdings nichts unternehmen. Und so durfte man das Buch zum Beispiel antiquarisch erwerben, was wichtig war, wenn man damit forschen wollte. Mir erschien das Vorgehen des Freistaats immer kontraproduktiv.
Hat das Buch erst dadurch den Nimbus des „Verbotenen“ bekommen?
Natürlich ist das Verbotene besonders interessant, und bei freier Verfügbarkeit hätte es so einen Nimbus wahrscheinlich nicht erlangt. Gestört hat mich auch immer die Einseitigkeit des Verbots. Hetzerische und menschenverachtende Schriften von Lenin, Stalin, Sayyid Qutb und anderen waren immer frei zugänglich, obwohl auch sie das Denken von Menschen vergiften können.
Das Urheberrecht von „Mein Kampf“ endete am 31. Dezember 2015, 70 Jahre nach Hitlers Tod im Mai 1945. Was veränderte das?
Wenn bei einem Buch das Urheberrecht endet, und das geschieht regelmäßig nach Ablauf der von Ihnen genannten Frist, wird es „gemeinfrei“. Das bedeutet, dass es jedermann nachdrucken kann. Genau das fürchtete der Freistaat.
Wie sieht die rechtliche Situation heute aus?
„Mein Kampf“ gilt nach wie vor als volksverhetzende Schrift, und das liefert einen Hebel, um gegen unkommentierte, nicht auf wissenschaftliche Auseinandersetzung hin angelegte Nachdrucke juristisch vorzugehen. 2017 hat zum Beispiel die Staatsanwaltschaft Leipzig in einem Fall interveniert, als ein Leipziger Verlag das Buch unverändert und ohne wissenschaftliche Einbettung nachgedruckt hat. So einfach ist es also nicht, „Mein Kampf“ zu verbreiten, obwohl die staatlichen Rechte daran erloschen sind. Besonders die Jugend will man davor schützen. So hat die Bundesprüfstelle für jugendgefährdende Medien „Mein Kampf“ 2018 auf den Index gesetzt, was bedeutet, dass die Verbreitungswege des Buches so eingeschränkt werden sollen, dass Kinder und Jugendliche keinen Zugang zu ihm bekommen. Wie das praktisch durchzusetzen ist, ist eine Frage für sich. Aber bei einer solchen Indizierung geht es nicht zuletzt auch um die Signalwirkung, die davon ausgeht.
Das Internet gibt seinen Nutzern ungefilterten Zugang zu Hitlers „Mein Kampf“. Wie gefährlich ist das?
Alle rechtlichen Maßnahmen, den Zugang zur Originalschrift zu beschränken, nützen natürlich nichts, wenn man das unkommentierte Buch im Internet problemlos herunterladen kann. Solange „Mein Kampf“ überhaupt nicht nachgedruckt werden durfte, war das Internet ein bequemer Weg, das Verbot zu umgehen. Wenn man es suchte, konnte man es finden, bevorzugt auf den Seiten von Islamisten, die Hitler schon wegen seines Judenhasses schätzten und schätzen.
Wie können wir diesen digitalen Herausforderungen begegnen?
Was hier hilft, ist, was man allgemein zur Förderung einer kritischen Nutzung des Internets tun muss: Kinder und Jugendliche von Anfang an mit den Ambivalenzen des Internets vertraut machen, sie auf die Bedeutung der Verlässlichkeit von Quellen aufmerksam machen, ihnen den Weg zu qualitativ hochwertigen, das eigene Denken herausfordernden Internetseiten weisen und ihre Urteilskraft fördern und stärken.