Die Psychologin Dawn Hughes zählt zu den gefragtesten Expertinnen für sexuellen Missbrauch. Im Fall P. Diddy spielte sie an Prozesstag zwölf eine zentrale Rolle.
Am zwölften Prozesstag im Verfahren gegen Sean „Diddy“ Combs richtete sich die Aufmerksamkeit der Geschworenen auf eine Frau, die nicht Opfer oder Täterin ist, sondern Expertin: Die Psychologin Dawn Hughes trat in den Zeugenstand. Als „blinde Sachverständige“ – also ohne direkten Bezug zu den Betroffenen – schilderte sie der Jury die typischen Dynamiken in missbräuchlichen Beziehungen. Warum Menschen in gewalttätigen Partnerschaften bleiben, warum sie die erlebte Gewalt nicht sofort den Behörden melden und welche psychischen Strategien Opfer entwickeln, um zu überleben.
Hughes betonte am Donnerstag im Gerichtssaal, dass es „sehr häufig“ vorkomme, dass Opfer in gefährlichen Beziehungen bleiben. Nicht, weil sie den Missbrauch akzeptierten, sondern weil sie sich gefangen fühlten. „Wenn man all dieser Gewalt und diesem Missbrauch ausgesetzt ist, versucht man einfach nur, auf diese sehr mikroskopische Weise von Tag zu Tag zu leben“, erklärte Hughes laut ABC News.
Dawn Hughes äußert sich nicht konkret zu P. Diddy
Die Psychologin darf sich in ihren Aussagen jedoch nicht direkt auf den Fall P. Diddy beziehen – obwohl der Vorwurf seiner ehemaligen Partnerin Cassie Ventura, er habe sie über Jahre hinweg physisch und psychisch misshandelt und zu sexuellen Handlungen gezwungen, den Prozess dominiert. Denn in US-Verfahren ist es gängige Praxis, dass psychologische Gutachterinnen und Gutachter keine Urteile über konkrete Täter-Opfer-Konstellationen fällen dürfen, wenn sie die Betroffenen nicht ausgiebig begutachtet haben. Deshalb lieferte Hughes heute lediglich allgemeinen Kontext zu gewalttätigen Beziehungen, erklärte etwa aus psychologischer Sicht das Konzept der Trauma-Bindung, bei der Opfer trotz des erlebten Missbrauchs eine tiefe emotionale Verbindung zum Täter verspüren.
Dr. Dawn Hughes ist in New York aufgewachsen und studierte Psychologie am Hamilton College. Ein Praktikum in einer psychiatrischen Strafvollzugsanstalt weckte laut eigenen Angaben ihr Interesse an der Schnittstelle von Recht und menschlicher Psyche. Später arbeitete sie in der South Bronx bei „Narco Freedom“, einem Suchtbehandlungszentrum, bevor sie bei den Bundesverteidigern des Southern District of New York erstmals psychologische Argumente vor Gericht präsentieren konnte. Ihr weiterführendes Studium absolvierte Hughes an der Nova Southeastern University in Florida, wo sie sich auf traumatischen Stress und zwischenmenschliche Gewalt spezialisierte.
Hughes forschte dort zum Langzeitgedächtnis von Missbrauchsüberlebenden, arbeitete mit Kriegsveteranen und absolvierte Praktika, eines davon an der Yale University School of Medicine. Ihre Ausbildung gipfelte 2005 in der höchsten postdoktoralen Zertifizierung in ihrem Fachgebiet: der Zulassung für Forensische Psychologie durch das American Board of Professional Psychology. Heute leitet die Psychologin eine Praxis in Manhattan und ist Assistenzprofessorin am Weill Cornell Medical College. Ihre Spezialgebiete: zwischenmenschliche Gewalt, posttraumatische Belastungs- und Angststörungen. Laut ihrer Website arbeitet sie aber bevorzugt mit den Opfern von Gewalt – nie mit vermeintlichen Tätern.
Schon mehrfach stand Hughes in den Gerichtssälen spektakulärer Prozesse: 2019 im Verfahren gegen Keith Raniere, den Anführer der Sekte NXIVM, 2021 im Fall R. Kelly sowie 2022 im Verfahren gegen Harvey Weinstein. Auch im Verleumdungsprozess von Johnny Depp und Amber Heard war ihr Urteil gefragt. Damals erklärte die Expertin, „Frau Heard war das Opfer von Gewalt in der Partnerschaft“, nachdem sie die Schauspielerin 30 Stunden evaluiert hatte. Obwohl Amber Heard den Prozess verlor, lobte ihre Anwältin Hughes als „die beste Expertin, die ich in 40 Jahren Praxis erlebt habe“.
Von der Jury geschätzt, von der Verteidigung gefürchtet
Ihre Fähigkeit, wissenschaftliche Hintergründe für die Jury präzise und verständlich aufzubereiten, machen sie zur gefragten Zeugin – und zur Zielscheibe. Schon im April versuchte die Verteidigung von P. Diddy vergeblich, Dawn Hughes vom Prozess auszuschließen. Obwohl sie lediglich über allgemeine Beziehungsmuster referieren sollte, bezeichneten die Anwäte ihre Expertise laut NBC News als „als Fachwissen getarnte Lobbyarbeit“.
Während sie heute im Zeugenstand saß, so berichtete CNN, habe Combs Verteidiger Jonathan Bach wiederholt versucht, Hughes als voreingenommene Mittelsfrau der Anklage zu denunzieren. Demnach fragte er während des Kreuzverhörs: „Ist es nicht eine Tatsache, dass Sie noch nie vor Gericht erschienen sind, um einen Mann zu verteidigen, der eines Sexualverbrechens angeklagt wurde?“ Die Expertin blieb souverän, antwortete nüchtern: „Das ist richtig, ich bewerte keine Straftäter.“ Auf die Nachfrage der Staatsanwältin, ob sie schon mal von Verteidigern beauftragt worden sei, entgegnete Hughes, sie sei in der Vergangenheit in einem anderen Fall sogar von einem von Combs‘ Anwälten engagiert worden.