Das Schicksal von Nadja Abd el Farrag löst nach ihrem Tod großes Mitgefühl aus. Warum erst jetzt? Ein Kommentar von stern-Autor Hannes Roß.
Selbst nach ihrem Tod blieb sie „Naddel“. Nadja Abd el Farrag war bereits drei Tage tot – gestorben an Organversagen in einer Hamburger Klinik –, als am Montagnachmittag die ersten Meldungen erschienen. „Naddel ist tot“, schrieb die „Bild“-Zeitung. Ein Name genügte. Man kannte sie. Ihr Gesicht. Ihre Stimme. Ihre Abstürze.
Sie fiel – und die Kameras liefen. Sie stand wieder auf – es wurde berichtet. Dann fiel sie erneut. Die Medien hielten drauf. Das Publikum sah zu. Ihr Leben wurde zur öffentlichen Schaubühne, ihr Kampf gegen die Sucht zur tragischen Inszenierung.
Nadja Abd el Farrag und die Kontrolle über das eigene Bild
Nadja Abd el Farrag hat oft versucht, ihre Geschichte selbst zu erzählen. Doch die Kontrolle über ihr Bild hatten längst andere übernommen. Die Medien bestimmten, was gezeigt wurde. Das Publikum entschied, wann es hinsah – und wann es wegsah. Ihre Sucht – öffentlich, sichtbar, oft verspottet – garantierte Aufmerksamkeit.
Jetzt ist sie tot. Und plötzlich sind viele betroffen. Menschen posten von Trauer getränkte Kommentare. Journalisten schreiben einfühlsame Nachrufe. Nadja Abd el Farrag wird zum Opfer erklärt – einer gnadenlosen Medienmaschinerie, die sie mitverheizt hat. Es ist ein Mitgefühl, das erst dann kommt, wenn nichts mehr zurückzugeben ist.
Sucht und die mediale Verantwortung
Als Reporter beim stern habe ich oft über Prominente geschrieben, die mit Sucht kämpften: Robbie Williams, Pete Doherty, Amy Winehouse. Ich erinnere mich gut an ein Konzert in London, bei dem eine sichtlich verwirrte, stark alkoholisierte Amy Winehouse vom Publikum mit Rufen zum Weitertrinken angefeuert wurde. Es war abstoßend.
Es ist nie leicht, den richtigen Ton zu finden, wenn man mit Prominenten über ihre Sucht spricht. Ich erinnere mich an ein Gespräch mit Til Schweiger vor zwei Jahren – sein erstes Interview zu den Vorwürfen seiner Alkoholsucht. Wir redeten zwei Stunden lang. Schweiger sprach offen über seinen Konsum, seine Fehler, seine Kämpfe. Darüber, wie er seine Familie und nahe Freunde mit seinem unkontrolliertem Verhalten immer wieder verletzt und enttäuscht hatte. Er arbeite nun daran, seine Probleme in den Griff zu bekommen. Ich wollte zuhören, nicht urteilen.
Die Erwartungen an den Journalisten
Nach der Veröffentlichung gab es viel Lob, aber auch Kritik. Ein Kollege warf mir vor, ich sei nicht hart genug mit Schweiger ins Gespräch gegangen. Er ließ durchblicken, dass er – obwohl er selbst nie ein Interview dieser Größenordnung geführt hatte – mit seiner „knallharten Verhörtechnik“ ein umfassendes Schuldeingeständnis hätte erzwingen können. Diese Haltung irritiert mich immer wieder, denn sie ist in der Medienbranche nicht unüblich. Doch ich verstehe mich als Journalist, nicht als Moralrichter. Til Schweiger saß nicht auf der Anklagebank. Ich war dankbar, dass er sich mir gegenüber so öffnete und Vertrauen hatte.
Doch auch Til Schweiger selbst zeigte sich später unzufrieden. In einem Podcast warf er mir vor, sein problematisches Verhältnis zum Alkohol ausgeschlachtet zu haben. Ich hätte, so sein Vorwurf, nur hören wollen, dass er ein „Alkoholiker“ sei – nichts weiter. Das hat mich getroffen, weil ich mir große Mühe gegeben hatte, ihm Raum für seine Sicht der Dinge zu geben.
Der schwierige Ton in der öffentlichen Debatte
Solche Reaktionen zeigen, wie schwer es ist, den richtigen Ton in der öffentlichen Debatte zu treffen – zwischen Erwartung und Vorwurf, zwischen Journalismus und Moral. Am Ende enttäuscht man alle – auch sich selbst.
Erst der Tod verändert die Wahrnehmung. Wie bei Nadja Abd el Farrag. Plötzlich wird das Bild weicher. Aus der Witzfigur wird eine tragische Heldin. Aus dem Skandal wird eine Tragödie. Für einen Moment zeigt die Öffentlichkeit Mitgefühl. Doch dann dreht sich das Karussell weiter.
Vielleicht ist es einfacher, das Scheitern anderer zu beobachten, als sich mit dem eigenen zu befassen. Vielleicht ist es das ritualisierte Geschäft mit der Betroffenheit, das uns abstumpfen lässt.
Sucht ist keine Unterhaltung
Doch eines bleibt: Sucht ist keine Unterhaltung. Sucht ist eine Krankheit. Nadja Abd el Farrag war mehr als eine Boulevardgeschichte. Sie war ein Mensch. Nun bekommt sie – spät, zu spät – einen Moment echter Anteilnahme.
Ob davon etwas bleibt? Vielleicht. Vielleicht auch nicht. Die nächste Pushnachricht, die um Aufmerksamkeit und Betroffenheit bettelt, ist schon unterwegs.