Interview: Julia Jäkel: „Die Welt hat sich rasant verändert – unser Staat zu wenig“

Die Managerin Julia Jäkel will Deutschland grundlegend reformieren und Bürokratie abbauen. Was bislang falsch läuft – und wo sich etwas ändern könnte.

Es sind in Teilen radikale Vorschläge, die die Initiative für einen handlungsfähigen Staat am Mittwoch vorgelegt hat. Hinter der Initiative stehen die Exminister Peer Steinbrück und Thomas de Maizière, der ehemalige Verfassungsgerichtspräsident Andreas Voßkuhle sowie die Managerin Julia Jäkel. Sie leitete von 2013 bis 2021 den Zeitschriftenverlag Gruner + Jahr, in dem zu der Zeit auch stern und Capital erschienen. Zuletzt engagierte sie sich als Vorsitzende des Zukunftsrats zur Reform des öffentlich-rechtlichen Rundfunks, der vergangenes Jahr weitreichende Änderungen bei ARD, ZDF und Co. vorschlug. Im Interview spricht Jäkel über die Ziele der Reforminitiative, über ihren Blick auf verkrustete Strukturen und überbordende Bürokratie sowie über Möglichkeiten, dem Schlamassel beizukommen.

Frau Jäkel, welches Problem adressieren Sie mit Ihrer Initiative?
Unser Staat wird von vielen Bürgerinnen und Bürgern als nicht mehr ausreichend handlungsfähig angesehen. Die Welt hat sich rasant verändert – unser Staat zu wenig. Für unsere Demokratie wird das zunehmend zu einem Legitimationsproblem. Daher ist es wichtig, dass wir uns endlich mit den strukturellen Problemen beschäftigen. Es geht uns also nicht um das Versäumnis einer einzelnen Regierung. Grundlegende Strukturen wurden über viele Dekaden zu wenig reformiert. Der Soziologe Steffen Mau hat dafür einen Begriff geprägt, der ursprünglich aus der Versicherungswelt kommt: der Allmählichkeitsschaden. Wenn das Wasserrohr in der Wand kaputt ist, merkt man das zunächst nicht. Es tröpfelt verborgen in der Wand so vor sich hin. Bis das Rohr irgendwann platzt und einem die ganze Wand entgegenkommt.

Wenn wir in dem Bild bleiben – wie schlimm ist die Lage?
Ich würde sagen, der Klempner sollte sich bereithalten. Die besorgniserregende weltpolitische Lage hat vielleicht wenigstens eine gute Seite, nämlich dass die Dringlichkeit allen klar wird. Wir müssen uns selbst helfen. Deshalb haben wir vier uns zusammengetan und uns gemeinsam mit 54 Expertinnen und Experten auf den Weg gemacht, Lösungen zu erarbeiten. Überparteilich, wir verfolgen auch keine Partikularinteressen. Wir wollen ins Handeln kommen. Rumgemäkelt wird genug. Und ich glaube, davon haben die Leute genug.  

Eines der Themen, denen Sie sich widmen, ist die Bürokratiebelastung. Viele Unternehmen und Bürger nehmen sie als zunehmend untragbar wahr – und den Staat damit als dysfunktional. Wie sind wir dahingekommen?
Da gibt es eine Reihe von Gründen. Es fängt damit an, dass wir versuchen, teilweise nicht auflösbare Zielkonflikte in Gesetze zu gießen, sie dann im Hauruck durch den Gesetzgebungsprozess peitschen; und noch dazu sind wir Bürgerinnen und Bürger anspruchsvoller geworden. Wir erwarten alles Mögliche vom Staat. Und jeder Einzelfall soll auch gerecht behandelt werden, bitte schön! Dadurch werden die Vorschriften so kompliziert, dass sie oft nicht mehr alltagstauglich sind. Dann sind bisher bei der Entstehung von Gesetzen Praktiker und Anwender nicht früh genügend involviert. Außerdem geben wir Beamten, also den ausführenden Organen, nicht genügend Raum, auch mal selbst zu entscheiden. Und nicht zuletzt geht es darum, wie unser föderales System funktioniert – an einigen Stellen müsste man eine etwas klarere Governance einziehen. Das ist bisher nicht gelungen.

Versuche, das Bürokratiedickicht zu lichten, gab es schon etliche. 
Ja, und jedes Gesetz zum klassischen Bürokratieabbau ist wichtig und sollte beherzigt werden. Nur wird das allein nicht ausreichen, wir werden so nicht grundsätzlich vorankommen. Für einen wirklich erfolgreichen Bürokratieabbau braucht es Veränderungen an der Wurzel. Das heißt: Wir machen konkrete Vorschläge zu einem besseren, praxisorientierten Gesetzgebungsverfahren, aber auch zu einem grundlegenden anderen Normierungsansatz. 

Der wäre?
Einfach gesagt: Der Staat sollte seinen Bürgern und den Unternehmern mehr Vertrauen schenken. Weniger Berichts- und Dokumentationspflichten, dafür härtere Sanktionen bei Fehlverhalten. Und das muss Hand in Hand gehen mit einer kulturellen Veränderung in der Verwaltung, die mehr Vertrauen schenkt und Neues möglich macht. Das alles wiederum muss auf einem digitalen Staat fußen, den wir bisher nicht haben. Das beschreibt vielleicht an diesem Beispiel unseren ganzheitlichen Ansatz ganz gut. Die Dinge verstärken sich gegenseitig. Fügt man sie zusammen, ergeben sie ein Konzept, das große Wirkung entfalten kann. 

Die bisherigen Versuche zum Bürokratieabbau waren also nicht umfassend genug?
Erstmal ist es gut, dass es Bürokratieabbaugesetze gibt. Auch einige Bundesländer gehen hier sehr entschieden vor. Aber insgesamt ist das Problem: Die meisten Versuche agieren nur im vorhandenen, unveränderten System. Dann ist die Wirkung zwangsläufig beschränkt. Und natürlich hat es auch damit zu tun, wie ernst man es meint. Wir schlagen deshalb ein Digitalisierungs- und Verwaltungsministerium vor, das zu einem konstanten Treiber der Veränderung wird, eine Verwaltungsreform orchestriert und eine modernere Personalentwicklung befördert. Nochmal zur Erinnerung: 70 Prozent der Menschen glauben, unser Staat sei überfordert. Da muss sich etwas grundlegend ändern. 

Aber die Menschen fordern gleichzeitig auch Regulierung ein: Kein Gesetz wird grundlos verabschiedet, hinter fast jeder Regel steht eine Interessengruppe, die gegen deren Abschaffung opponieren würde. 
Da haben Sie recht. Daher müssen wir politische Zielkonflikte stärker im Vorhinein klären und sollten nicht versuchen, sie durch überkomplexe Gesetzgebung zu mitigieren. Ich glaube schon, dass die Parteien inzwischen verstanden haben, dass wir so nicht weiter verfahren können. Aber wir müssen da auch alle selbst etwas mithelfen.

Was heißt das?
Das heißt, dass wir uns als Gesellschaft auch fragen müssen: Wollen wir, dass der Staat so viel von uns fern hält und uns eine übergroße Sicherheit suggeriert? Soll er wirklich jedes Problem antizipieren und dafür Vorsorge treffen? Das macht ihn extrem behäbig. Ich will mal ein etwas einfaches Beispiel bringen: Der Metzger, der x-Mal erklären muss, wann er sein Hackfleisch von hier nach dort gebracht hat, wann er eine Tüte geöffnet hat und wann nicht und ob er die Kühlkette eingehalten hat oder – verbotenerweise – mit dem Fleisch am Weg zur Toilette vorbeigegangen ist, der stöhnt unter diesen Berichtspflichten. Vielleicht wäre es der bessere Weg, dass man einfach ein Verbot ausspricht, dass die Gesundheit der Kunden nicht gefährdet werden darf. Und wenn dann eine Salmonellose entsteht, dann wird der Laden halt vier Monate dichtgemacht und die Kunden gehen nicht mehr hin. Aber richtig ist, wir als Gesellschaft müssten das dann aushalten. 

Wir müssten also von der deutschen Versicherungsmentalität wegkommen?
Exakt. Da sind wir inzwischen Weltmeister geworden. Auch bei der sogenannten Einzelfallgerechtigkeit: Wir versuchen es jedem Einzelnen komplett recht zu machen. Was wir brauchen: ein bisschen mehr Pauschalen, ein bisschen mehr Einfachheit. 

Was macht Sie zuversichtlich, dass Ihre Initiative nicht so endet wie andere Kommissionen, deren Papiere in irgendwelchen Schubladen endeten?
Wir haben hier jetzt vor allem über das Thema Bürokratieabbau gesprochen, das ist nur Element eines großen Konzepts. Wir haben in unseren sieben Arbeitsgruppen bewusst keine aktiven Politiker und keine Interessensvertreter berufen. Der Bundespräsident ist Schirmherr, das macht er nicht einfach so. Aber vor allem ist der Druck heute einfach ein ganz anderer als vor fünf oder vor zehn Jahren. Die Dringlichkeit ist gewaltig –  jeder, der das Video im Oval Office verfolgt hat, in dem Trump Selenskyi gedemütigt und wie einen Schuljungen behandelt hat, weiß, was die Stunde geschlagen hat. Wir müssen uns selbst helfen. Das Gute ist: Wir können uns selbst helfen. Unser Land verfügt über so viele Qualitäten. Wir brauchen dazu aber wirklich beherzte Reformen. Wenn wir die Kraft dafür aufwenden können, ist mir nicht bang.