Union und SPD wollen über eine Koalition verhandeln. Der Juso-Chef sieht gerade viele sozialdemokratische Ideale wackeln – und macht der Parteiführung nun eine klare Ansage.
Herr Türmer, für CSU-Chef Markus Söder machen die Sondierungsergebnisse „Lust auf mehr“. Für Sie auch?
Dass wir die Finanzierungsfrage vorher geklärt haben, ist zu begrüßen. Allerdings sind in den Bereichen Arbeit, Soziales und der Migration Punkte enthalten, die ich aus tiefster Überzeugung ablehnen muss, sollten sie auch in einem Koalitionsvertrag stehen.
Das Schuldenpaket für die Infrastruktur steht auf der Kippe, weil die Grünen es ablehnen. Ist Schwarz-Rot schon gescheitert, bevor es überhaupt losgeht?
Dass Merz die ganze Zeit so getan hat als wenn die Grünen schon an Bord wären, war natürlich ein peinlicher Fehler. Die Grünen bringen ein paar berechtigte Punkte an, mit denen sich Merz nun ernsthaft auseinandersetzen muss. Wichtig ist, dass am Ende ein Ergebnis steht, das den Weg frei macht für eine Reform, die sowohl Verteidigungsausgaben als auch Investitionen aus den Schuldenregeln ausnimmt.
Die SPD trägt in der Migrationspolitik plötzlich viele Punkten mit, die von der Union zuletzt auch mit AfD-Stimmen im Bundestag durchgedrückt wurden. Wo ist der Furor des Juso-Vorsitzenden?
Ich bin im Bereich Asyl und Migration schlichtweg erschüttert. Es soll nach Afghanistan und Syrien abgeschoben werden, „beginnend“ mit Straftätern und Gefährdern, heißt es – als soll da noch mehr kommen. Massive Abschiebungen unter anderem nach Syrien, wo nach aktuellen Berichten gerade 300 alawitische Zivilisten ermordet wurden, das verletzt ganz klar menschenrechtliche Mindeststandards.
„Viele sozialdemokratische Ideale scheinen gerade ordentlich zu wackeln“
Auch Zurückweisungen an den Grenzen für Asylsuchende sind geplant …
… in „Abstimmung“ mit EU-Partnern, aber das wird von der Union offenbar als schlichtes Inkenntnissetzen ausgelegt. Das ist weder humanitär noch aus europäischer Perspektive akzeptabel.
Die SPD pocht auf Einvernehmen mit den EU-Nachbarn. Wiederholt Schwarz-Rot den Ampel-Fehler, viele Dinge aufzuschreiben, aber zwischen den Zeilen nicht einig zu sein?
Diesen Eindruck muss man haben. Bleibt es bei der Auslegung der Union, setzt Deutschland seine EU-Nachbarn sozusagen in CC einer E-Mail und sagt: „Hallo ihr Lieben, wir machen das ab jetzt.“ Damit würden wir die Solidarität innerhalb der EU aufkündigen – und das in einer Zeit in der es mehr gemeinsames europäisches Vorgehen braucht. Es gibt aber noch einen weiteren Punkt, der mich fassungslos macht.
Und zwar?
Dass Doppelstaatlern die deutsche Staatsbürgerschaft entzogen werden soll. Damit wird ein verfassungswidriger Weg beschrieben und eine rote Linie überschritten. Das ist ein absoluter Dealbreaker, der für uns nicht tragbar sein darf.
Es soll geprüft werden, ob Terrorunterstützern, Antisemiten und Extremisten die deutsche Staatsbürgerschaft entzogen werden kann, wenn Sie eine weitere Staatsangehörigkeit besitzen.
Der Entzug der Staatsbürgerschaft wird im Grundgesetz ausgeschlossen, als Lehre aus der Nazi-Zeit und DDR-Diktatur – mit dem Instrument der Ausbürgerung wurden Menschen entrechtet. Nun steht im Sondierungspapier sehr schwammig, dass unter anderem „Extremisten“ die Staatsbürgerschaft entzogen werden soll. Damit würden wir die Büchse der Pandora öffnen, eine Staatsbürgerschaft zweiter Klasse und eine Möglichkeit schaffen, Menschen nach Gutdünken den Pass zu entziehen.
Übertreiben Sie jetzt nicht etwas? Viele Deutsche werden diesen Passus völlig richtig finden.
Stellen Sie sich vor, die AfD sollte irgendwann an einer Landesregierung beteiligt sein – was wir hoffentlich zu verhindern wissen. Aber aus Perspektive eines AfD-Behördenchefs ist im Zweifel jeder, der sich aktuell klar in der demokratischen Mitte verortet, ein Extremist.
Das Bürgergeld soll umbenannt und umgestaltet werden. Künftig soll wieder ein Vermittlungsvorrang gelten, um schneller in Jobs zu vermitteln. Einverstanden?
Wir haben uns das Bürgergeld nicht aus Spaß ausgedacht. Im Hartz-IV-System wurden massenweise Menschen in Jobs vermittelt, die weder ihren Fähigkeiten noch Interessen entsprochen haben. Die Folge: Das Arbeitsverhältnis war nur von kurzer Dauer, viele landeten in der Grundsicherung. Deswegen war es richtig, den Vermittlungsvorrang zu beenden und stattdessen auf Kooperationsvereinbarungen zu setzen. Das jetzt wieder abzuwickeln wäre ein massiver Rückschritt.
Auch ein vollständiger Leistungsentzug bei Totalverweigerern soll künftig möglich sein. Ist das nicht nur gerecht?
Nein, das wäre klar verfassungswidrig. In unserem Sozialstaat wird den Menschen ein Existenzminimum durch das Grundgesetz garantiert. Ich erwarte von allen demokratischen Parteien, insbesondere von der SPD, dass sie solche Errungenschaften verteidigt und nicht angreift und aushöhlt.
Gibt die SPD gerade Ideale auf, um in eine Koalition eintreten zu können?
Noch ist es zwar ein Sondierungs- und kein Koalitionspapier, aber viele sozialdemokratische Ideale scheinen meinem Empfinden nach gerade ordentlich zu wackeln. In diesem Sondierungspapier stehen viele Punkte, die für eine sozialdemokratische Partei nicht vertretbar sind. Das müssen jetzt harte Verhandlungen werden, ohne Einigungszwang.
„Dass eine Neuaufstellung vor allem auch frische Gesichter braucht, ist logisch“
Ist das Scheitern einer schwarz-roten Koalition nicht eine Schimäre? Was wäre denn die Alternative, sollten die Gespräche platzen?
Eine Option wäre zum Beispiel auch, dass man dann noch mal eine Runde weiter verhandelt. Wir sind jetzt in einer extrem schwierigen Situation, in der es sich niemand zu einfach machen darf. Durch das Wahlergebnis ist die Ausgangslage extrem herausfordernd.
Die SPD-Mitglieder werden online über einen Koalitionsvertrag abstimmen. Wo werden Sie und die rund 70.000 Jusos nicht mitgehen können?
Beim Punkt der doppelten Staatsbürgerschaft muss dringend ein Stoppschild gesetzt werden, auch in den Bereichen Arbeit und Soziales wird die SPD-Führung noch nachbessern müssen, die Kritik im Bereich Asyl habe ich deutlich ausgesprochen. Insgesamt muss das ganze Paket besser werden – sonst wird es mit der Unterstützung der Jusos sehr schwierig. Ich könnte einem Koalitionsvertrag mit diesem Inhalt so nicht zustimmen.
Die SPD will wieder eine Volkspartei links der Mitte werden. Wie soll das in einer Mitte-Rechts-Regierung gelingen?
Einfach wird’s nicht. Wir müssen uns ehrlich den programmatischen Problemen stellen, die zu einem großen Glaubwürdigkeitsverlust in die SPD geführt haben. Viele Menschen haben das Gefühl, dass wir uns nur noch in einer Berliner Regierungslogik bewegen, weit weg von ihren eigentlichen Problemen. Diese Menschen finden sich in unserer Vision nicht wieder, weil wir sie nicht glaubhaft verkörpern. Da müssen wir dringend ran.
Ende Juni soll auf dem SPD-Parteitag auch die Parteispitze neu gewählt werden. Sollten Lars Klingbeil und Saskia Esken für einen Neuanfang freimachen?
Wir Jusos wollen eine programmatische Neuaufstellung, die auch nach außen für alle sichtbar sein muss. Das betrifft also auch die Gesichter, die eine Partei insgesamt nach außen vertreten – ob an der Partei- und Fraktionsspitze, aber auch mögliche Regierungsmitglieder. Dass eine Neuaufstellung vor allem auch frische Gesichter braucht, ist logisch. Alles andere wäre ein merkwürdiges Signal.
Bisher hat es die SPD-Spitze es so gehandhabt, dass Partei- und Regierungsamt strikt getrennt wurde. Sollte es dabeibleiben?
Die Regelung wird in unserer Partei allgemein akzeptiert. Ich sehe keinen Grund, sie jetzt zu ändern.