Psychische Erkrankungen: Vor die Lage kommen – Menschen mit Risikopotenzial finden

Risikopersonen mit psychischen Auffälligkeiten aufspüren und akute Gefahrenlagen entschärfen – mit einem Frühwarnsystem erprobt NRW das seit Jahren. Baden-Württemberg signalisiert Interesse.

In Mannheim hat ein nach Behördenangaben psychisch gestörter Mann mit seinem Fahrzeug zwei Menschen getötet und etliche verletzt. Nun überlegt Baden-Württemberg, ein Konzept aus Nordrhein-Westfalen zu übernehmen, das genau solche Risikopersonen im Blick hat. Dabei geht es darum, psychisch auffällige Menschen, die potenziell gefährlich sind oder werden könnten, herauszufiltern. Und zwar jenseits von politischen oder religiösen Motiven.

 „Zwischen den verantwortlichen Stellen in Nordrhein-Westfalen und Baden-Württemberg besteht ein direkter Austausch. Die Umsetzbarkeit des Konzepts ist derzeit Gegenstand einer Prüfung“, heißt es in einer Antwort des Innenministeriums auf eine Landtagsanfrage der SPD.

Nach der Todesfahrt von Mannheim verdichten sich die Hinweise auf eine seit Jahren herrschende psychische Erkrankung des 40 Jahre alten Täters. Das geht unter anderem aus ärztlichen Unterlagen und Zeugenaussagen hervor. Nach Auskunft der Ermittler befand er sich regelmäßig in ärztlicher beziehungsweise psychiatrischer Behandlung. Hätte der Deutsche aus Ludwigshafen gestoppt werden können, wenn man ihn früher auf dem Radar gehabt hätte? In der Regel machen Amokläufer bereits vor der Tat Andeutungen – manchmal mündlich, manchmal schriftlich.

NRW will vor die Attacke kommen 

Wie macht es nun NRW? NRW-Innenminister Herbert Reul (CDU) hatte das Konzept „Personen mit Risikopotenzial“ (Periskop) nach den Amokfahrten von Münster, Volkmarsen und Trier ins Leben gerufen. Alle Täter waren vor ihren Amoktaten auffällig. Sie machten Andeutungen, fielen bei Routinekontrollen auf oder bombardierten die Behörden als „Vielschreiber“ mit Briefen. Sie hatten Warnsignale gesendet, die aber nicht als solche interpretiert worden waren. Solche „tickenden Zeitbomben“ rechtzeitig zu erkennen, ist in Nordrhein-Westfalen seit Mai 2022 ein landesweiter Standard. 

Bei der Risikobewertung geht die Polizei anhand eines Kriterienkatalogs vor. Wenn eine Person sich zum Beispiel gewaltbereit oder waffenaffin in Verbindung mit psychisch auffälligem Verhalten zeigt, kann „Periskop“ eingesetzt werden. In Fallkonferenzen beraten Polizei und weitere Behörden wie Schulen, Gesundheitsämter oder psychiatrische Einrichtungen über das Risikopotenzial und besprechen das best- und schnellstmögliche Vorgehen. 

Zur Einschätzung des Risikopotenzials werde auch auf die Überprüfung in polizeilichen Systemen – etwa Waffenregister – zurückgegriffen, sagt ein Sprecher des NRW-Innenministeriums. „Leider kann trotz des Konzepts am Ende immer eine Situation entstehen, in der eine Person mit einer psychischen Erkrankung in einer Kurzschlussreaktion schwere Straftaten begeht. Derartige Taten können niemals gänzlich verhindert werden, da die menschliche Psyche viel zu komplex ist, als dass man Verhalten hundertprozentig vorhersagen könnte“, sagt der NRW-Behördensprecher. 

Viele Prüffälle erfasst 

Das Projekt habe erste Erfolge erzielt, Probanden hätten stabilisiert werden können, sagt der Behördensprecher. Nach Daten des Landeskriminalamtes NRW wurden seit Projektbeginn 7.431 Prüffälle in den 47 Kreispolizeibehörden in NRW bearbeitet. Sie wurden für 5.035 unterschiedliche Personen im Zeitraum vom 1. Februar 2021 bis 30. November 2024 erfasst. Bei 1.003 Personen handelt es sich dabei um sogenannte Mehrfachprüffälle. Zum 30. November seien 362 Menschen als Personen mit Risikopotential eingestuft gewesen. 

Der SPD-Rechtsexperte und Mannheimer Landtagsabgeordnete Boris Weirauch sagt, die baden-württembergische Landesregierung habe bisher nur Programme, die an begangene Straftaten oder drohende politisch motivierte Straftaten von erheblicher Bedeutung anknüpften. „Wir müssen auch risikoträchtige Personen in den Fokus nehmen können, die durch die herkömmlichen Raster fallen.“ 

Keine Garantie 

Jörg Kinzig, Kriminologe von der Universität Tübingen, sagt, dass der Versuch der Polizei, sozusagen vor die Lage zu kommen, nach den vergangenen Gewalttaten verständlich sei. „Dennoch handelt es sich bei dem Versuch, Frühwarnsysteme zu installieren, um eine Gratwanderung. Ob und welche Straftaten dadurch verhindert werden können, wissen wir nicht genau“, sagt Kinzig. 

Reul fügt hinzu: „Wir müssen diese Leute stärker in den Blick nehmen. Aber 24/7 kann niemand bewacht werden. Polizei ist für Straftäter zuständig, nicht für psychisch auffällige Menschen. Und hellsehen kann auch keiner bei der Polizei.“ Die Zusammenarbeit zwischen den verschiedenen Institutionen müsse funktionieren. „Nur dann haben wir die Chance, Gefahren frühzeitig zu erkennen. Die Garantie, dass das immer funktioniert, gibt es allerdings nicht.“