Missbrauchsprozess in Frankreich: Sohn des Angeklagten hatte „glückliche Kindheit“

Im französischen Missbrauchsprozess mit fast 300 Opfern im Kindesalter hat der jüngste Sohn des Angeklagten seine Familie als „normal“ beschrieben. Er habe von den „abscheulichen Taten“, zu denen der 74 Jahre alte frühere Chirurg Joël Le Scouarnec sich am Vortag bekannt hatte, nichts mitbekommen, sagte der 37-Jährige am Dienstag vor Gericht in Vannes. 

„Ich habe davon erfahren, als er 2017 festgenommen wurde“, sagte er. Seine Kindheit habe er als eine glückliche erlebt. Sein Vater sei immer für ihn dagewesen. „Ich habe eine gute Erinnerung an meinen Vater“, betonte der Mann. Dies sei auch der Grund, warum er seit 2017 keinen Kontakt mehr zu seinem Vater haben wollte. „Ich wollte dieses Bild von ihm bewahren“, sagte er. 

Er denke nicht, dass er selber von seinem Vater missbraucht worden sei. Aber der „emotionale Absturz“ nach der Festnahme seines Vaters habe ihn misstrauisch gemacht. „Ich lasse meinen Sohn nie mit einer einzelnen Person allein“, sagte er über sein drei Jahre altes Kind. 

„Man muss den Angeklagten von dem Vater trennen, der dafür gesorgt hat, dass es mir gut ging“, sagte er mit belegter Stimme und blickte zum ersten Mal auf den Angeklagten. Dieser senkte den Kopf, nahm die Brille ab und hielt sich offensichtlich gerührt die Hand vor die Augen. 

Am Abend sollte noch die mittlerweile geschiedene Frau von Le Scouarnec aussagen, die von manchen der Nebenkläger verdächtigt wird, ihren Mann zeitweise gedeckt zu haben. In einem Interview hatte sie kürzlich allerdings erklärt, nichts gewusst zu haben. Sie erschien mit großer schwarzer Kapuze, medizinischer Maske und Handschuhen vor Gericht. 

Le Scouarnec wird vorgeworfen, 256 Jungen und Mädchen unter 15 unter dem Vorwand von Untersuchungen oder unter Narkose missbraucht zu haben. In dem Prozess geht es insgesamt um 299 mutmaßliche Opfer, die im Schnitt elf Jahre alt waren. Zu ihnen zählten aber auch ein einjähriges Kind und ein 70-Jähriger. Dem Angeklagten werden 111 Vergewaltigungen und 189 sexuelle Übergriffe in einem Zeitraum von zweieinhalb Jahrzehnten zur Last gelegt. 

Seine Taten waren ans Licht gekommen, als die Ermittler bei einer Hausdurchsuchung in Zuge eines anderen Verfahrens auf Tagebuchaufzeichnungen des Arztes stießen. Darin beschrieb er minutiös, wie er sich an den Kindern verging – teils im Krankenzimmer, teils sogar auf dem Operationstisch. Ermittler fanden bei dem Mediziner außerdem rund 300.000 Fotos und Videos mit kinderpornographischen Darstellungen. 

Le Scouarnec arbeitete in rund zwölf verschiedenen Krankenhäusern im Westen Frankreichs. Obwohl manche seiner Chefs und Kollegen wussten, dass er bereits früher wegen Kinderpornographie verurteilt worden war, behinderte dies nicht seine Karriere. Dies führte zu einem zweiten Ermittlungserfahren, in dem es um Behördenversagen geht.

Der Angeklagte war 2005 ein erstes Mal wegen Besitzes von kinderpornographischen Bildern zu einer Bewährungsstrafe verurteilt worden. 2020 wurde er zu 15 Jahren Haft verurteilt, weil er in den 90er Jahren vier Mädchen missbraucht hatte, unter ihnen zwei Nichten und die sechs Jahre alte Tochter seiner Nachbarn. Es war der Fall des Nachbarskindes, der die Hausdurchsuchung ausgelöst und damit den massenhaften Missbrauch ans Licht gebracht hatte.

Der Prozess ist auf vier Monate angesetzt. Die Höchststrafe beträgt 20 Jahre.