Fried – Blick aus Berlin: Der notorische Besserwisser und der größte Irrtum seiner Karriere

Unser stern-Kolumnist Nico Fried macht sich nach der Bundestagswahl Gedanken um die Koalitionsbedingungen von SPD und Union. Und was für Deutschland nun wichtig wäre.

Vor einigen Monaten habe ich Olaf Scholz gefragt, ob er nicht befürchte, dass die Leistungen seiner Regierung erst zur Geltung kämen, wenn er nicht mehr im Amt sein werde. So, wie es bei Gerhard Schröder und dem wirtschaftlichen Aufschwung nach der Agenda 2010 war, von dem nach Schröders Abwahl seine Nachfolgerin Angela Merkel profitierte. Da grinste Scholz und antwortete: Nein, das befürchte er nicht, denn er werde anders als sein sozialdemokratischer Vorgänger keine vorzeitigen Neuwahlen herbeiführen. Und dass er schließlich wiedergewählt würde, hat er sowieso immer geglaubt. Mittlerweile ist alles anders gekommen.

Scholz hat vorgezogene Neuwahlen herbeigeführt, und er hat sie verloren. Noch nie ist ein Kanzler mit einem so hohen Stimmenverlust abgewählt worden. Scholz verlässt das Amt ziemlich genau mit den Prozentwerten als Ergebnis, bei denen die SPD in Umfragen stand, als sie ihn vor fünf Jahren zum Kandidaten kürte. Der Partei geht es also heute schlechter als damals, weil jetzt Wirklichkeit geworden ist, was damals nur eine Stimmung war.

Zwei Fragen stellen sich noch zu Olaf Scholz, diesem Sensationssieger von 2021, der sich in der zweitkürzesten Amtszeit eines Bundeskanzlers zur tragischen Figur regierte. Kurzfristig, ob er trotz des desaströsen Wahlausgangs einen ordentlichen Abgang hinbekommt. Langfristig, ob seine Kanzlerschaft und ihre Ergebnisse nicht besser waren als sein persönlicher Ruf an deren Ende.

Was den Abgang betrifft, kann es nach dem Wahlsonntag nur noch besser werden. Ja, Scholz hat Friedrich Merz gratuliert. Das war immerhin mehr, als Armin Laschet vor dreieinhalb Jahren am Wahlabend gegenüber Scholz hinbekommen hat – aber es war auch schon alles von einem Kanzler, dem die Spuren der Belastung und die Schmach der Niederlage ins bleiche Gesicht geschrieben standen.

Die Niederlage des Olaf Scholz

Ziellos mäanderte der Kanzler auf Abruf ohne klare Botschaft über das schlimme Ergebnis seiner Partei hinweg. Er, der für sich in Anspruch nimmt, 2021 die Wahl für die SPD gewonnen zu haben, hätte genauso klar die Verantwortung dafür übernehmen sollen, 2025 die Wahl für die SPD verloren zu haben. Scholz ist nicht nur gegen alle Umfragen, sondern auch trotz der erkennbaren Distanz, ja Abneigung vieler Deutscher gegen ihn als Person noch einmal angetreten. So sehr sein Sieg 2021 eine Überraschung war, so wenig war es seine Niederlage jetzt. Scholz’ trotzige Kandidatur war das letzte Aufbäumen eines notorischen Besserwissers und vielleicht der größte Irrtum in seiner politischen Karriere. Scholz hat damit weder dem Land noch seiner Partei noch sich selbst einen Gefallen getan.

Was seine Kanzlerschaft betrifft, bleibt es Scholz’ großes Verdienst, dass er mit einer ganz neuen Regierung das Land nach dem russischen Überfall auf die Ukraine ohne bleibende Schäden durch die Folgen des Krieges manövriert hat. Es ist immer undankbar, wenn eine Leistung darin besteht, dass eine befürchtete Katastrophe nicht eintritt. In diesem Fall waren das der Zusammenbruch der Energieversorgung, kalte Wohnzimmer, stillgelegte Fabriken.

Die Tatsache, dass am Sonntag gut ein Drittel der Wählerinnen und Wähler für russlandfreundliche Parteien gestimmt haben, bestätigt den Kanzler zumindest auch in dem Argument, dass die Unterstützung der Ukraine das Land tiefer gespalten hat als die Berliner Blase, und rechtfertigt seinen Versuch, die Gesellschaft nicht durch grenzenlose Militärhilfe weiter auseinanderdriften zu lassen.

Welche Reformen, vom Bürgergeld über das Heizungsgesetz bis zur Staatsbürgerschaft die nächste, mutmaßlich von der CDU geführte Regierung wirklich zurücknehmen oder doch nur modifizieren wird, ist noch nicht ausgemacht. Die Wahrscheinlichkeit, dass statt Windrädern wieder Atomkraftwerke gebaut werden, ist gering. Und wenn es gelingen sollte, den Fachkräftemangel mit qualifizierten Arbeitnehmern aus dem Ausland zu begegnen, ist es auch der Regierung Scholz zu verdanken.

Am Ende ist dieser Kanzler der lebende Beweis dafür, dass ordentliche Politik und überzeugende Persönlichkeit sich ergänzen müssen, wenn es um dauerhaftes Vertrauen der Bürger geht. Letzteres hat Olaf Scholz gefehlt, weil er mit seinen Versprechen vom zweiten Wirtschaftswunder bis zu Abschiebungen im großen Stil zu großspurig auftrat. Weil er sich selbst so toll fand, dass sich Wohlwollen in Irritation wandelte. Weil ihm die Demut fehlte, und nur Wehmut zurückbleibt, auch bei jenen, die in Scholz einen fähigen Kanzler sehen wollten. So wie ich es tat.

SPD und Union zum Erfolg verdammt

Wie die SPD macht auch das Land nun politisch da weiter, wo es am Ende der Ära Merkel aufgehört hat: mit einer großen Koalition. Nur dass wie bei der SPD auch die politische Stimmungslage des ganzen Landes noch schlimmer ist als damals. Die Ränder zerfasern nicht mehr, sie wuchern, rechts noch schlimmer als links.

Union und SPD müssen eine Koalition bilden, weil es nicht nur politisch, sondern auch rechnerisch die letzte verbliebene Option für die Parteien der Mitte ist. Sie lehnen sich aneinander wie zwei Betrunkene. Fällt einer um, zieht es den anderen mit. Trotzdem sind sie zum Erfolg verdammt.

Von großer Koalition kann im Übrigen keine Rede sein. Union und SPD haben zusammen nicht einmal die Hälfte der Stimmenanteile erobert. Sie profitieren davon, dass zwei Parteien knapp an der Fünf-Prozent-Hürde gescheitert sind. Die rund vier Millionen Stimmen für BSW und FDP fallen mithin unter den Tisch, an dem jetzt Friedrich Merz und Lars Klingbeil als Verhandlungsführer Platz nehmen werden.

Eine Koalition aus Union und SPD: Das klingt so einfach. Waren nicht drei der letzten fünf Regierungen große Koalitionen? Andersrum ist es richtig: Die Aufgabe ist gewaltig, auch weil es so viele große Koalitionen gab. Man muss sich nur weitere Aspekte des Wahlergebnisses vor Augen führen, um sich klarzumachen, wie politisch disparat Deutschland geworden ist. Die Linke feiert sich als stärkste Kraft in Berlin, die AfD hat fast den ganzen Osten blau gemacht. Junge Menschen wählen zu großen Teilen keine traditionellen Parteien mehr. Der leichtfertige Umgang mit der Demokratie gefährdet sie immer mehr.

Union und SPD also. Die einen sind hinter den eigenen Erwartungen geblieben, die anderen haben ein Desaster erlebt. Die Union will einen Kanzler stellen, der noch nie regiert hat, die SPD verhandelt nicht auf Augenhöhe, sie beschafft nur die Mehrheit. Für die Union wird Friedrich Merz die Regierung führen, doch seine Abhängigkeit von Markus Söder harrt noch der Vermessung. Es wird früher oder später Schlagzeilen geben über den „heimlichen Kanzler Söder“, und dem CSU-Chef wird es gefallen.

Lange Koalitionsverhandlungen stehen bevor

Die Sozialdemokraten sind jetzt Funktionspartei. Eine rote FDP. Dafür muss sich die SPD teuer verkaufen, muss inhaltliche und personelle Ansprüche stellen, darf sich aber auch nicht lächerlich machen.

Es müsste schnell gehen, aber es wird wohl lange dauern. Womöglich zieht sich die Regierungsbildung nach dieser Bundestagswahl noch länger hin, als einem schon der Wahlkampf vorkam. Es müsste schnell gehen wegen der internationalen Lage, wegen des Krieges in der Ukraine, wegen der Nöte Europas mit dem US-Präsidenten, wegen der wirtschaftlichen Probleme, kurz: wegen der Unsicherheit der Menschen. Aber es wird wohl lange dauern, weil sich die Beteiligten sortieren müssen. Weil die Union mit der SPD regieren will und die SPD wohl auch mit der Union, aber völlig unklar ist, wer welchen Preis verlangt. Und wie lange es in der SPD braucht, die Basis dafür zu gewinnen.

Friedrich Merz und Lars Klingbeil. An ihnen hängt es zuerst, was herauskommt, wie schnell, und welche Chance diese Koalition hat. Ihr persönliches Verhältnis ist wechselhaft, aber ausbaufähig. Daran muss es jedenfalls nicht scheitern. Weit entfernte politische Charaktere wie Angela Merkel und Franz Müntefering haben einst zusammengefunden, vermeintliche Freunde wie Merkel und Guido Westerwelle haben sich über die Regierungsarbeit entfremdet. Es geht, wenn man will.

Merz und Klingbeil haben beide noch nie in einer Regierung gesessen. Söder schon. Das wird er sie spüren lassen. Merz hat die Scharte ausgewetzt, die ihm Angela Merkel einst zufügte. Er hat ein persönliches Ziel erreicht. Aber ob er sich klargemacht hat, dass Kanzler sein noch schwerer ist als Kanzler werden? Fehlende Selbstbeherrschung wie bei seinem Alleingang zur gemeinsamen Abstimmung mit der AfD im Bundestag verzeiht vielleicht eine Partei in der Hitze des Wahlkampfs, aber kein Koalitionspartner im Überlebenskampf.

Lars Klingbeil hat nach Scholz den größten Anteil an der Schlappe der SPD. Die Kandidatenfrage hat der Parteichef versemmelt, weil er die Rivalität zwischen Olaf Scholz und Boris Pistorius einfach laufen ließ. Er hat einen desaströsen Wahlkampf zu verantworten. Das verbliebene Argument für Klingbeil ist sein Alter (47). Das aber ist ein Zustand und keine Kompetenz. Trotzdem hat er sich noch in der Nacht zu Montag neben dem Partei- auch den Fraktionsvorsitz gesichert. Man kann Klingbeil zugutehalten, dass schwierige Koalitionsverhandlungen und personelle Erneuerung gleichzeitig nicht geht; dass die SPD deshalb wenigstens einen braucht, der Stabilität gewährleistet. Mithin sind es aber nicht Klingbeils Fähigkeiten, sondern die Umstände, die ihn an der Spitze halten.

Trotz alledem: Die größte Chance, die Merz und Klingbeil haben, ist das Überraschungsmoment. Wenn sie die niedrigen Erwartungen übertreffen, die sich mit dieser Zwangskoalition verbinden. Wenn sie ihre Egos in den Dienst der gemeinsamen Sache stellen, die potenziellen Konkurrenten wie Söder, Hendrik Wüst oder Boris Pistorius einbinden und nicht am Tag nach der Wahl schon die taktische Aufstellung für die nächste Wahl vor Augen haben: Merz, weil er meint, sich die Jungen vom Leibe halten zu müssen, Klingbeil den Alten. Eine funktionierende Regierung wäre da schon ein Anfang. Gab es ja länger nicht mehr.

Und es sollte schnell gehen.