Interview: „Ich halte mich nicht für eine Gefahr für Kinder“

Bußgelder oder Haftstrafen: Protest ist für Aktivisten teuer. Lisa Poettinger kostet er die Karriere. Ein Gespräch über geplatzte Träume, Reue und AfD-Plakate.

Sie demonstrierte mit Extinction Rebellion gegen die Klimakrise, organisierte Münchens Großdemo gegen rechts und bezeichnet sich selbst als „Marxistin“. Ihre antikapitalistische Haltung kommt Lisa Poettinger nun teuer zu stehen. Im Februar sollte die Lehramtsstudentin in Bayern ihr Referendariat antreten. Doch daraus wird nichts: Die Behörden sehen in ihr eine Extremistin mit linken Umsturzfantasien, und als solche muss sie den Schuldienst quittieren, bevor sie ihn überhaupt angetreten hat.

Was macht das mit einer 28-Jährigen, die ihre Zukunftspläne für ihre Überzeugungen aufs Spiel gesetzt hat? War sie sich der Konsequenzen bewusst?

Eigentlich ist Poettinger gerade im Urlaub. Nach den Berichten über ihre Suspendierung wird sie von Medien und Bekannten gleichermaßen überrannt. Die Nachrichten könne sie alle kaum beantworten, berichtet die Aktivistin. Deshalb eine Pressekonferenz am Freitag. Dort will sie Stellung nehmen. Für die Fragen des stern nimmt sich Poettinger aber schon vorher Zeit.

Frau Poettinger, Sie wollen Lehrerin werden, aber wegen Ihres Aktivismus droht Ihnen ein Berufsverbot. Wie geht es Ihnen damit?
Tatsächlich ganz gut. Letztes Jahr habe ich wegen meiner Demo gegen rechts einen großen Shitstorm erlebt. Das war ziemlich schlimm. Jetzt erfahre ich das Gegenteil, und das ist unheimlich schön. Ich erhalte jeden Tag so viele persönliche Nachrichten.

Von wem?
Von Menschen, mit denen ich zuletzt vor fünf Jahren Kontakt hatte, von Erzieherinnen aus dem Waldkindergarten, in dem ich arbeite. Von den Eltern der Kinder, von ehemaligen Mitstudierenden und auch von Freundinnen und Menschen, die mir politisch sehr nahestehen. Aber auch von Menschen, mit denen ich mich politisch gefetzt habe.IV Fridays for Future Bundestagswahl 10.45

Sie haben ihren Traumberuf aufs Spiel gesetzt. Bereuen Sie das?
Ich habe alles aus Überzeugung getan. Und Risiken gehören dazu. Bisher habe ich darauf vertraut, dass Meinungsfreiheit ein Grundrecht ist, das auch für Menschen mit marxistischer Weltanschauung gilt, nur: Ich habe eine antikapitalistische Haltung, die an Schulen scheinbar nicht erwünscht ist.

Die Behörden werfen Ihnen vor, dass Sie mit ihren Weltanschauungen die Schüler indoktrinieren könnten und Umsturzfantasien hegen. Könnten Sie Berufliches und Privates trennen – also Unterricht und Aktivismus?
Mir ist es auf jeden Fall wichtig, etwas zu bewegen, vor allem für einzelne Schüler, die aus schwierigen Verhältnissen kommen und deswegen kaum Chancen haben. Aber das schließt das Neutralitätsgebot ja nicht aus. Privat dürfte ich ja weiter aktiv sein, und die Klimakrise ist für mich eben eine wahnsinnig drängende Frage, die man nicht auf die nächsten Generationen abschieben kann.

Mir ist wichtiger, dass unsere Lebensgrundlagen geschützt werden, als Karriere zu machen

Warum wollten Sie Lehrerin werden?
Ich bin in schwierigen Verhältnissen aufgewachsen, und Bildung war für mich ein Türöffner. Deswegen finde ich sie auch so wichtig. Außerdem arbeite ich gerne mit Kindern und Jugendlichen zusammen. Aber Schüler sind ihre eigenen kleinen Menschen. Die sind nicht wie eine Tabula Rasa zu formen, sondern bringen selbst ganz viel mit. Für mich ist Bildung Aufklärung: Kinder und Jugendliche sollen selbst entscheiden, was sie aus dem Gelernten ziehen. Es ist nicht meine Aufgabe, ihnen Lebenswege vorzugeben. Ich möchte Kinder nicht indoktrinieren.

Das ist auch nicht die Aufgabe eines Lehrers.
Sie wollen, dass ich jetzt sage, ich hätte mich besser politisch zurückhalten sollen. Aber mir ist wichtiger, dass unsere Lebensgrundlagen geschützt werden, als Karriere zu machen.

Der Aktivismus ist Ihnen also wichtiger.
Das Lehramt ist mir auf jeden Fall sehr wichtig, immerhin habe ich das Fach jahrelang studiert und mich mit Zusatzqualifikationen weitergebildet. Ich habe mich nie politisch engagiert, um dafür ein Berufsverbot zu kassieren.Jobprotokoll Lehrerin Referendarin 12.30

Lehrer dürfen an Protesten teilnehmen und sich politisch engagieren, nur eben in Maßen. Sie haben offenbar eine rote Linie überschritten.
Unsere wirtschaftlichen Verhältnisse überschreiten die rote Linie regelmäßig. Wenn in Pakistan aufgrund von einer Überschwemmung 33 Millionen Menschen obdachlos werden, hätte das doch ein Weckruf sein müssen, oder? Dagegen konsequent vorzugehen, halte ich moralisch nicht nur für legitim, sondern für geboten!

Aber hätte es nicht gereicht, sich einfach auf die Straße zu kleben, statt beispielsweise AfD-Plakate abzureißen?
(lacht) Ich habe mich nie angeklebt. Die Sache mit dem AfD-Plakat war ehrlich gesagt eine Affekthandlung. Aber es war ein antisemitisches, volksverhetzendes Plakat in der Öffentlichkeit! Ich finde, dann ist es auch wichtig, Zivilcourage zu zeigen.

Und was hat das geändert?
Eine Freundin von mir ist eine Transfrau, und die ist mir sehr dankbar dafür, weil für sie die Gefahr für körperliche Übergriffe deutlich höher ist als für andere Menschen. Sie hat das Plakat so empfunden, als würden Transpersonen für körperliche Übergriffe freigegeben werden, da sie mit dem Plakat alle als Kinderschänder dargestellt wurden, gegen die man sich wehren müsse. Das ist nicht nur ekelhaft, sondern auch gefährlich.

Bei einer Demo 2021 kamen Zivilpolizisten auf mich zu und haben gefragt, wie es mit meinem Lehramtsstudium so läuft

Was hat Sie inspiriert, Aktivistin zu werden?
Im Englischunterricht hat mich die amerikanische Bürgerrechtsbewegung inspiriert. Aber damals habe ich mich noch nicht getraut, weil ich dachte, dass man als Aktivistin krasses Vorwissen mitbringen muss. Am Ende hat mich die „Fridays for Future“-Bewegung dazu gebracht. Das war 2019, damals war ich 23 Jahre alt. Es hat mich total berührt, dass so viele junge Menschen auf die Straße gehen und dafür Ärger von der Schule in Kauf nehmen. Ich war selbst nie bei „Fridays for Future“, sondern habe mich Extinction Rebellion angeschlossen.

Zwei Jahre waren Sie dabei. Warum haben Sie aufgehört?
Bei der IAA (Automobilmesse in München, Anm. d. Red.) 2021 habe ich auch andere Gruppen kennengelernt.

Zum Beispiel das Offene Antikapitalistische Klimatreffen München, das Sie unter anderem Ihren Lehrertraum kostet. Warum ausgerechnet diese Gruppe?
Damals ist die Polizei hart gegen wenige Demonstranten vorgegangen. In dieser Zeit habe auch ich zum ersten Mal Repressionen erfahren, die bis heute für mich unverhältnismäßig und unerklärlich waren. Die Gruppe hat mich dahingehend gut aufgefangen.

Dass Bayern diese Gruppe als linksextrem einstuft, wussten Sie?
Damals war es noch nicht so, jetzt schon. Ich halte das für falsch. Da wird eine Gruppe gebrandmarkt, die sich für Klimagerechtigkeit einsetzt.

Ihr Engagement in allen Ehren, aber haben Sie nie über die Konsequenzen nachgedacht?
Na klar! Bei einer Demo 2021 kamen Zivilpolizisten auf mich zu und haben gefragt, wie es mit meinem Lehramtsstudium so läuft, wenn ich ständig demonstriere. Das war schon sehr einschüchternd und hat mir gezeigt, dass man mich auf dem Schirm hat.PAID AfD Weidel in Hamburg Demo 22.30

Sie haben trotzdem weitergemacht – zum Beispiel 2023 in Lützerath. Hatten Sie keine Angst?
Zunächst schon, aber ich war auch gekränkt. Ich habe das alles überhaupt nicht verstanden, weil ich der Meinung war, dass gerade Demonstrationen zeigen, wie engagiert sich Bürger für die Demokratie einsetzen. Und angesichts der ganzen Nachrichten rund um die Klimakrise war es mir auch nicht möglich, damit aufzuhören und meine Karriere in den Vordergrund zu stellen.

Was sagt Ihr Arbeitgeber, der Waldkindergarten, zu all dem?
Ich wurde dort sofort verlängert, nachdem man von meinem Berufsverbot gehört hat, weil die Chefs und Kollegen wissen, dass ich eine gute Pädagogin bin.

Und trotzdem wollen Sie keine eigenen Kinder, haben Sie in einem anderen Interview gesagt.
Das ist eigentlich ziemlich tragisch. Kinder sind witzig und kreativ. Sie fordern einen immer wieder heraus, weil sie die Welt jeden Taginfragee stellen. Und sie sind interessant, weil sie schlecht lügen können. Ich wäre sehr gerne Mutter geworden. Aber ich fürchte, dass wir einen Rechtsruck erleben. Die Brandmauer ist in Deutschland gefallen, und die Klimakrise gibt es auch noch. Ich kann mir kaum vorstellen, dass die Zukunft für ein Kind schön wird.

In drei Wochen soll mein Referendariat beginnen, aber das halte ich für unrealistisch

Aber Kinder könnten die Welt zu einem besseren Ort machen, oder?
Bestimmt, aber ich bringe doch kein Kind auf die Welt, damit es mein Social Justice Warrior wird! Außerdem steht wegen des Berufsverbots gerade meine existenzielle Zukunft auf dem Spiel. Da stellt sich die Frage nach Kindern gar nicht.

Fühlen Sie sich ungerecht behandelt, wenn andere Aktivisten deutlich weiter gehen als Sie oder Lehrer vor Gericht milder bestraft werden, um ihre Verbeamtung nicht zu verlieren?
Ich möchte das nicht vergleichen, weil ich die Schicksale dahinter nicht kenne. Aber Bayerns Entscheidung empfinde ich als autoritäre Wende. Die äußere Sicherheit wird auf Kosten von Menschenrechten hochgefahren. Und wer sich dagegen wehrt, wird kriminalisiert und mundtot gemacht. Aber noch ist nichts endgültig. Im schlimmsten Fall gibt es eine Gegenklage.Interview BIldungsgewerkschaft 16:24

Wie optimistisch sind Sie, dass Sie irgendwann doch noch vor einer Schulklasse stehen?
Es gab in letzter Zeit mehrere Berufsverbote gegen angehende Lehrkräfte. Manche sind gut verlaufen, andere nicht. In drei Wochen soll mein Referendariat beginnen, aber das halte ich für unrealistisch.

Also keine Lehrerin, sondern Berufsaktivistin?
Ich kann mir nicht vorstellen, aufzuhören. Dazu müsste ich schon sehr mürbe gemacht werden, und das dauert sehr lange. Aber ich habe mich noch auf andere Stellen im sozialen Bereich beworben, weil ich auch Kinderpflegerin bin. Vielleicht nehme ich auch einen zweiten Job in einem Kindergarten an. Ich bin keine Gefahr für Kinder. Deswegen möchte ich auf jeden Fall weiter mit ihnen arbeiten.