Ob Thilo Mischke „Titel, Thesen, Temperamente“ moderiert, ist eigentlich egal. Doch der Rückzieher der ARD ist nicht nur peinlich. Er sagt auch viel über den Zustand unseres Landes aus.
Was sind die ARD-Verantwortlichen doch für Feiglinge. Erst verkünden sie Thilo Mischke als neuen Moderator ihrer Kultursendung „Titel, Thesen, Temperamente“ („ttt“), einen Shitstorm später haben sie es sich anders überlegt.
Einer der Gründe für die Kehrwende ist ein Buch, das Mischke vor 13 Jahren veröffentlicht hatte: „In 80 Frauen um die Welt“. Es gilt heute vielen als sexistisch. Man kann selbstverständlich der Ansicht sein, dass Mischke kein ausgesprochen talentierter Autor ist und sein Buch nicht sehr gelungen ist. Man kann natürlich auch fragen, ob Mischke wirklich der bestmögliche Moderator für diese Sendung wäre. Und ja: Darüber könnte man streiten, mit Argumenten.
Der Rückzieher der ARD dagegen ist merkwürdig. Die Verantwortlichen können nicht argumentieren, dass sie vor ihrer Entscheidung nicht wissen konnten, was der Herr Mischke so gesagt und geschrieben hat, auch über Frauen. Das ist das erste Problem in dieser Causa. Das zweite ist, dass der öffentlich-rechtliche Sender offenkundig außerstande war, mögliche Kritik an der Personalie vorherzusehen – oder sie dann wenigstens auszuhalten.
Das ist ein Armutszeugnis.
Noch einmal: Es ging in der Debatte nicht um neue Enthüllungen, es ging um Altbekanntes. Neu – wenngleich nicht überraschend – war nur der Gegenwind, in dem Mischke jetzt allein stehengelassen wurde von der ARD.
Thilo Mischke Absage „TTT“-Moderator 12.24
Es geht um mehr als Thilo Mischke
Klar, nun könnte man zur Tagesordnung übergehen. Aber es geht inzwischen um mehr als um einen Moderator in spe. Es geht um eine problematische Entwicklung. Etwas, das Autoren und Autorinnen in diesem Land immer öfter widerfährt, wenn manchen – in der Regel sehr lauten – Menschen nicht passt, was sie sagen oder schreiben: Sie werden verächtlich gemacht, manchmal fallengelassen wie Mischke. Manchmal werden sie sogar mundtot gemacht.
Es ist noch gar nicht so lange her, da bekam der Tagesschau-Sprecher und Grimme-Preisträger Constantin Schreiber bei einer Lesung eine Torte ins Gesicht. In seinem Roman „Die Kandidatin“ erzählt er die fiktionale Geschichte einer Muslima, die sich anschickt, Kanzlerin zu werden.
Niemand sprang Schreiber zur Seite. Die Buchhandlung nicht, die die Lesung veranstaltet hatte. Auch die Universität, in der die Lesung stattfand, schwieg. Schreiber, der Arabisch spricht und kritisch über das Treiben in deutschen Moscheen berichtet hatte, kündigte an, sich nicht mehr zum Thema Islam zu äußern. Die Stimme eines kritischen und ausgewiesenen Fachmannes verstummte. Der Protest dagegen konnte nicht verstummen, es gab ihn erst gar nicht.
Chance für Thilo Mischke Meinung 15.20
„Nabokov würde heute Morddrohungen kriegen.“
„Die Freiheit der Kunst“ sei „heute kleiner als noch vor wenigen Jahren“, sagte die österreichische Schriftstellerin Eva Menasse („Alles und nichts sagen“) 2018 bei der Eröffnung des Internationalen Literaturfestivals Berlin in einer großartigen Rede. Als Beispiel diente ihr unter anderem Vladimir Nabokovs Roman „Lolita“. „Heute wäre so gut wie undenkbar, dass Nabokovs ‚Lolita‘ veröffentlicht werden könnte, das eines der großartigsten Kunstwerke der Literatur ist, obwohl und weil es um einen detailliert beschriebenen Kindesmissbrauch geht.“
Schon 1955 habe es erhebliche Schwierigkeiten gegeben, das Buch zu veröffentlichen: „Heute, Sie wissen es alle, bekäme Nabokov mindestens Morddrohungen.“ Menasse sieht eine „pseudokorrekte Inquisition“ am Werk, die per Shitstorm Künstlerinnen und Künstler verfeme. Von „militanter Intoleranz“ und einem „Tsunami der Vereinfachungen“ sprach Menasse.
STERN PAID 50_24 Sylt-Skandal: „Ich habe ja nichts gemacht“ 12:36
„Willen zur Sittlichkeit“
Diese „pseudokorrekte Inquisition“ hat auch dafür gesorgt, dass in Berlin das Gedicht von Eugen Gromringer von der Fassade einer Hochschule geschrubbt worden ist. Studierende hatten sich beschwert: Das preisgekrönte Gedicht sei – weil es Frauen und Blumen gleichsetze – sexistisch.
Die Diskussion darüber, was Literatur darf, ist so alt wie die Literatur selbst. In der modernen Literatur wimmle es von „Psychopathen“ und „gemeingefährlichen Existenzen“, schimpfte der Germanist Emil Staiger 1966 bei einer Preisverleihung in Zürich. Er mahnte Schriftsteller, „vorbildliche Gestalten“ zu schaffen, die beim Publikum den „Willen zur Sittlichkeit“ stärkten. Staiger brach damit den „Zürcher Literaturstreit“ vom Zaun und erlebte das, was man heute einen Shitstorm nennen würde. Namhafte Schriftsteller, darunter Max Frisch, erinnerten ihn wortgewaltig daran, dass Literatur frei sei und das Leben abbilden dürfe – in all seinen Facetten, auch den dunklen.
Shitstorms vergiften das Klima
Nun ist es ähnlich. Die „pseudokorrekte Inquisition“ verlangt nach einer angeblich politisch korrekten Literatur, die es nicht geben kann, solange Literatur das Leben abbildet. Sie unterstellt, wie im Falle Mischke, dass der Sexismus, den er in seinem Buch „In 80 Frauen um die Welt“ verbreitet habe, das gesellschaftliche Klima gegenüber Frauen vergifte. Und macht ihn verantwortlich für eine sogenannte Rape-Culture. Weil er angeblich reale Begebenheiten schildere, spricht man ihm das Recht auf Kunstfreiheit ab.
In der DDR gab es Behörden, die darüber wachten, dass nur politisch genehme Literatur erschien. Heute gibt es den Shitstorm im Netz.
Dast ist natürlich nicht dasselbe, es gibt bei uns keinen staatlichen Unterdrückungsapparat, der Meinungen zensiert und Leben zerstören kann. Die Wirkung aber, man muss das inzwischen wohl so sagen, ist inzwischen fast ähnlich. Der Shitstorm unterdrückt Meinungen und Diskurse. Das gilt besonders dann, wenn er auf feige Verantwortliche trifft, die ihn nicht aushalten. So wie nun bei der ARD.
Es ist nur eine Frage der Zeit, wann der oder die Nächste durchs Netz getrieben wird. Und verstummt. Wo bleibt eigentlich der Protest gegen all‘ die Shitstorms? Er wäre durchaus überfällig.
Transparenzhinweis: Thilo Mischke war in der Vergangenheit Mitarbeiter des stern. Die Autorin hat nie mit ihm zusammengearbeitet und kennt ihn kaum.