Der stern hat in diesem Jahr viele Geschichten veröffentlicht, die erstaunen, schockieren, enthüllen. In dieser Serie empfehlen Redakteure ihre Lieblingstexte aus 2024.
„Als das Land auf sein Geheiß stillsteht, donnert Claus Weselsky über die linke Spur der A 72.“ So startet meine Geschichte des Jahres.
Anfang 2024, nun bald genau vor einem Jahr, fuhr über Wochen hinweg kein Zug. Verantwortlich dafür: Claus Weselsky. Die einen liebten, die anderen hassten ihn für seine Dickköpfigkeit und die Bahnstreiks, mit denen er am Ende Erfolg haben sollte. 35 statt 38 Wochenstunden für Lokführer, bei vollem Lohnausgleich.
Heute erinnert sich kaum noch jemand an Weselsky und seinen Streik, oder zumindest ist der Mann irgendwo in hintere Hirnwindungen abgetaucht. Schon im Spätsommer sprach ja kaum noch wer von den Bahnern in grünen Westen und die Frage, wie zum Teufel man jetzt pünktlich zum Geschäftstermin kommen sollte. Im ersten Quartal 2024 dagegen: alle.
Meine Kollegin Johanna Wagner begleitete für ihre Reportage „Weselskys letzter Kampf“ den Gewerkschaftschef über viele Monate – auch und vor allem nachdem er seinen Sieg errungen hatte. Sie blieb bei ihm und fragte: Kann dieser Mann, der mit Krawall und höchstem Druck die gesamte Republik erlahmen ließ, in den Ruhemodus schalten? Wie geht es ihm mit dem, was er uns allen aufzwängte: Stillstand? Denn Weselsky ist seit dem 4. September in Rente.
Das Besondere an dieser Geschichte, die ich Ihnen ans Herz lege: Sie hört nicht da auf, wo die öffentliche Wahrnehmung endet.
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So ein Vorhaben ist nicht leicht. Eine Reportage wie diese braucht Zeit: Immer wieder telefonierte Wagner mit Weselsky, fuhr zu ihm, Weselskys Ehefrau entschied schließlich sogar: Die Reporterin durfte das Ehepaar in ihrem Ferienhaus besuchen, als Weselsky bereits im Ruhestand war. Einblick in einen privaten Moment, wie Weselsky es selten zuließ.
Warum soll sich die Reporterin um Claus Weselsky kümmern, wenn alle anderen ihn vergessen haben?
Ein solches Vorhaben muss gerechtfertigt werden, besonders in ereignisreichen Jahren wie diesem: Warum soll sich die Reporterin um einen Mann kümmern, den alle schon fast vergessen haben, wenn auf dem Schreibtisch Dutzende hochaktuelle Geschichten und Nachrichten liegen, die sie stattdessen bearbeiten könnte?
Hinter dieser Geschichte steht damit ein Konflikt, den Qualitätsjournalismus, wie der stern ihn sich auf die Fahnen schreibt, immer schon und immer wieder austragen muss. Wir wollen beides: Sie, liebe Leserinnen und Leser, mit aktuellen Nachrichten informieren, schnellstmöglich zum Ort eines Geschehens rasen und im Idealfall nur Stunden danach Reports, Töne, Bilder liefern. Und wir wollen Recherchen wie diese aufschreiben, die vor allem bedeuten: Dranbleiben, wenn der Rest bereits abgehauen ist.
Kein Porträt des vergangenen Jahres kommt Claus Weselsky so nah wie das von Johanna Wagner. Ich empfehle Ihnen: Lesen Sie es. Und falls Sie zwischen den Jahren mit der Bahn durch die Republik düsen, wünsche ich Ihnen eine frohe Fahrt.
Die bisherigen Folgen der Serie:
Geschichte des Jahres „Ein krankes Haus“